Wann ist’s Sex?
Wann ist’s Sex?

Wann ist’s Sex?

Wann ist’s Sex?

Die Recherche „Wann ist’s Sex?“ hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Prozesse der öffentlichen Sexualisierung von Körpern unter dem Aspekt von kulturell-vorgeprägter Rezeption zu betrachten, Gründe für die Fetischisierung bestimmter Materialien (und davon abhängig Nicht-Fetischisierung anderer) zu untersuchen und in Form von Quellenrecherche nach Gründen für die gesellschaftlich kritische Betrachtung von sog. „Kinks“ zu suchen. Dies geschah sowohl in Form von den erwähnten Quellenrecherchen, als auch durch empirische Auswertung von performativen Versuchen im öffentlichen Raum sowie über künstlerisch-forschende Zusammenarbeit mit der Völkerkundesammlung Lübeck.

Bei der Recherche arbeiteten das queere Hamburger Performer:innen-Kollektiv XelK und der Theaterregisseur Levin Handschuh zusammen. XelK arbeitet an den Grenzgebieten von queer-kinken Geschlechterrollenvorstellungen und dem Umgang mit sexueller Identität sowie sexueller Praxis in der öffentlichen Wahrnehmung. Dabei vertritt XelK die Position, dass sexuelle Vielfalt und der offene Umgang mit ihr ausschlaggebend für ein gesundes soziales Miteinander ist und die Unterdrückung ebendieser eher zu toxischen Verhältnissen führt. Auf dieser Grundannahme aufbauend entstand die Frage, unter welchen Umständen etwas im öffentlichen Raum als „sexualisiert“ bzw. „anstößig“ betrachtet wird: In Hamburg zeigt z.B. die großangelegte Plakat-Kampagne der Datingplattform „Parship“ in sog. „motion posters“ (digitale Plakate auf Bildschirmen, die eine kurze Bewegung von 2-5 Sekunden zeigen) Frauen, die sich in ihren Posen dem „male gaze“ anbieten. Mit offenem Mund Lächelnd und die Schulter anbietend wird der weibliche Körper hier stark sexualisiert und soll insbesondere den Sexualtrieb des Rezipienten ansprechen. Ebenfalls auffällig ist das ungleiche Verhältnis von weiblichen zu männlichen Modellen, letztere sind zwar vorhanden, jedoch nur selten. Dies kann natürlich auf den Leitsatz „sex sells“ (gerade bei einer Datingplattform) zurückgeführt werden, spannend ist jedoch, dass es keinerlei Anstoß erregt, dass hier mit dem „Vorspiel zum Akt“ geworben wird.

XelK vertritt natürlich die Position, dass dies auch keinen Anstoß erregen sollte, da ein erwachsender und offener Umgang mit der menschlichen Sexualität so etwas ohne weiteres aushalten können muss. Zwar könnte man die Frage stellen, welche Auswirkungen diese Objektifizierung des weiblichen (Werbe)Körpers für die Gesellschaft hat, jedoch geht es in dieser Recherche nicht darum. Vielmehr stellt sich nun die Frage, wo die Grenze gezogen wird, wenn derlei Darstellungen im „grünen Bereich“ liegen.

Unter welchen Umständen also betrachtet die Öffentlichkeit etwas als sexualisiert und warum ist wann der Grad der „Anstößigkeit“ erreicht? Bei Feldversuchen mit Performer:innen wurden qualitative Erlebnisprotokolle angefertigt und v.a. unter ethnologischen wie juristischen Aspekten ausgewertet. Ein wichtiger Faktor hierbei war die klare Abgrenzung zur Darstellung erheblicher sexueller Handlungen, welche nach deutschem Recht nach § 183a StGB im öffentlichen Raum eine Straftat darstellen (Sex, Oral- oder Analverkehr, Masturbieren, Onanieren, sonstige Manipulation am (entblößten) Geschlecht).

Öffentliche Versuche

Stattdessen wurde sich strikt darauf konzentriert, die sexualisierte Wahrnehmung von Körpern und Kleidung zu untersuchen. Hierzu wurden performative Versuche in verschiedenen öffentlichen Räumen durchgeführt, bei denen sich jeweils zwei bis drei Performer:innen in typischer „Fetisch-Kleidung“ (Latex, Maskierung) bewegten, ohne die Kleidung dabei jedoch zu „bespielen“. Die Performer:innen wurden dazu angewiesen, sich ganz normal bzw. mit bewusster Selbstverständlichkeit zu verhalten und die Reaktionen der Betrachter:innen möglichst nicht zu beachten bzw. zu kommentieren. Dies wurde jeweils von zwei Assistent:innen in ziviler Kleidung begleitet, welche nochmals eine Außenposition einnahmen. Auf Befragung der Passant:innen wurde bewusst verzichtet, um die Reaktionen nicht zu verfälschen.

Die Performer:innen trugen dabei „Fetisch-Kleidung“ in verschiedenem Ausmaß, von begleitenden Accessoires wie einem Jackett oder einer Korsage bis hin zu Ganzanzügen (Catsuits) und Masken. Geschlechtsteile wurden dabei nicht betont.

Straße

Als erstes wurden Interventionen im typisch-öffentlichen Raum durchgeführt, also in Fußgängerzonen und Parkanlagen, sowohl in touristisch hoch-frequentierten Gegenden (Landungsbrücken) als auch in ruhigeren Seitenstraßen. Festhalten lässt sich, dass insbesondere die Performer:innen in Catsuits zahlreiche Blicke auf sich zogen. An den Landungsbrücken kommentierten insbesondere Gruppen junger Menschen (u.a. Junggesell:innenabschiede) mit auffällig sexualisierten Kommentaren. Ansonsten liefen die Passant:innen jedoch kommentarlos vorbei, es fanden augenscheinlich keine ärgerlichen Erregungen statt. In den ruhigeren Seitenstraßen, wo dem Team nur einzelne Passant:innen begegneten, waren die Blicke etwas intensiver, insbesondere in Wohngegenden wurden den Performer:innen von Menschen mittleren Alters (30-50jährige) augenscheinlich argwöhnische bis angewiderte Blicke zugeworfen. Auffällig war hierbei, dass fast alle dieser Passant:innen mit Kleinkindern unterwegs waren. Außer einem für sich gemurmelten „Was soll das denn?“ konnten aber keine Kommentare gehört werden.

Café

Auf der zur Straße hin gerichteten Terrasse diverser Cafés nahmen die Performer:innen Getränke und Speisen zu sich. Hier gab sich ein ähnliches Bild wie auf der Straße, die Tischnachbar:innen schauten zwar, kommentierten in den meisten Fällen aber nicht. Besonders hervorzuheben sind hier die Reaktionen von älteren Personen (60-70jährige), die positiv auf die auffällige Kleidung reagierten und Fragen stellten (meist, ob es nicht warm wäre). Natürlich reagierten insbesondere die Kellner:innen auf die Performer:innen und stellten Fragen zur Kleidung. In einem Fall kam es soweit, dass der Besitzer des Cafés geholt wurde – um zu klären, ob das Café die Gäste fotografieren und auf dem hauseigenen Instagram-Kanal posten dürfe. Der Auftritt wurde so zu einem „kleinen Event“.

Jugendgruppen

Besonders auffällig war das Verhalten von Gruppen junger Menschen: Junge Männer (zwischen 16 und 20) reagierten mitunter mit anzüglichen Kommentaren und Körpersprache. Die Performer:innen wurden erst als sexuelles Kuriosum betrachtet und es wurde um Fotos gebeten. Auffällig waren die perplexen Reaktionen bei Verneinung: Die Jugendlichen hatten die Kleidung scheinbar als Aufforderung interpretiert und verstanden das „Nein“ als Ablehnung ihrer eigenen sexuellen Ausstrahlung. Auch feindselige Reaktionen waren zu beobachten, bis zu verbaler sexueller Übergriffigkeit. Junge Menschen, die sich Sub-Kulturen und/oder queeren Gruppen zuordneten, reagierten hingegen aufgeschlossen und aufgeregt über die Performer:innen. Die Tatsache, diese mit Selbstvertrauen und Selbstverständlichkeit so zu sehen, gab ihnen selbst Mut, zu ihrer Identität zu stehen. Manche waren verunsichert: Ist es Kunst oder Übergriffigkeit, so auf die Straße zu gehen?

Museum

Als vierten Versuch besuchten die Performer:innen museale Räume, dabei bewusst Ausstellungen mit sexualisierter bzw. erotischer Kunst. Dies wurde vorher mit den Museen schriftlich abgeklärt. Im Verlauf der Ausstellung begannen die Performer:innen, mehr und mehr ihrer Alltagskleidung durch Latex-Bekleidung und -Masken auszutauschen. Da auch hier Kinder anwesend waren, wurde besonders auf die Reaktionen der anderen Besucher:innen geachtet, aber auch auf die des anwesenden Personals. Auch hier wiederum reagierten die Anwesenden sehr positiv, sowohl Besucher:innen als auch Personal baten darum, Fotos im privaten Rahmen und zum Posten machen zu dürfen.

Grundsätzlich lässt sich also festhalten, dass die Öffentlichkeit größtenteils positiv und offen auf die Fetisch-Kleidung reagiert hat. Eine Sexualisierung wurde zwar wahrgenommen, meist jedoch nicht negativ betrachtet. Eine Ausnahme bildeten hier Menschen mit Kindern, wo sich tatsächlich abschätzige bis verärgerte Reaktionen ergaben. Es lässt sich also schließen, dass eine Jugendgefährdung durch das Betrachten von Latex-Kleidung befürchtet wurde.

Die direkten Erfahrungen

Die Performer:innen wurden nach den Auftritten darum gebeten, Gedächtnisprotokolle und Erlebnisberichte anzufertigen. Hier einige aufschlussreiche Passagen:

Die ersten Reaktionen, vor allem von jungen Frauen waren durchweg positiv: „Oh wow, du siehst ja toll aus“, „Die Sachen stehen dir wirklich gut“, „Cool, dass ihr das macht“. Einige blieben verwundert und interessiert mit einigem Abstand stehen. Andere raunten schulterzuckend „Tja, typisch Hamburg eben“.

Schließlich setzten wir uns in ein Café um etwas zu essen. Den Inhaber hatten wir vorher gefragt, und ebenso er reagierte offen und entspannt.

Ich bin mir darüber im Klaren, dass ich für alle sichtbar, ein eher ungewöhnliches und ungewohntes Bild nach außen tragen würde und die Öffentlichkeit damit konfrontiere. Aber zwinge ich damit jedem Betrachter eine Auseinandersetzung mit „Nischenthemen“ wie Latex, BDSM oder Fetisch im Allgemeinen auf? Ich denke nicht. Stattdessen ist jeder eingeladen nachzufragen, Interesse zu zeigen oder seine Meinung zu teilen.

Negativ aufgefallen waren mir vor allem Männer mittleren Alters: mit Blicken, „Daumen hoch“-Gesten oder auch direkteren Kommentaren wie „Du siehst in dem Outfit schon sehr heiß aus…“.

Die einzigen, wirklich unangenehmen Momente für mich waren, als uns Kinder passierten. Da habe ich mich plötzlich schlecht gefühlt. Als ob sie das nicht sehen dürften.

Reaktion der digitalen Öffentlichkeit

Eine weitere Auswertung von Reaktionen fand im digitalen Raum auf der Chat-Plattform „Jodel“ statt. Jodel wurde gewählt, da hier anonymisiert kommentiert werden kann und die Ereignisse streng lokal angezeigt werden: Posts werden mit einem Ort versehen und nur Menschen in engen Umkreisen können diese sehen und kommentieren. Also posteten die Assistent:innen Handy-Fotos von den Interventionen parallel bei Jodel und verfolgten die Reaktionen. Hier verschob sich das Verhältnis von positiven zu negativen Kommentaren: Während letztere in der direkten Reaktion eher verhalten blieben, wurde bei Jodel deutlich lauter gegen unsere Interventionen kommentiert. Zwei Themen waren dabei prominent: Die Privatheit und erneut der Jugendschutz.

Zum Thema der Privatheit wurde oft darauf hingewiesenen, dass man sich vom Anblick offensichtlicher Fetisch-Kleidung belästigt fühle, da man davon ausginge, dass die Performer:innen exhibitionistische Erregung verspürten und insofern von „Sex“ im öffentlichen Raum auszugehen sei. „Zuhause kann ja jeder machen, was er will, aber bitte nicht in der Öffentlichkeit“. Oft wird darauf verwiesen, der Kontext „Sex“ könne nicht wegbehauptet werden, wenn es um Kleidung aus dem Fetisch-Bereich ginge. Darauf wird wiederum erwidert, dass dies aber nicht ausschließlich dort so sei, sondern Kleidung allgemein eine sexuelle Komponente habe.

Insbesondere wurde erneut die Sorge um das Kindswohl angeführt: Müsse man Kinder unbedingt so direkt mit Sex konfrontieren? Hier wurde mitunter hart und ausfällig kommentiert. Die Passant:innen nutzten also den digitalen Raum, um ihrem Ärger Ausdruck zu verleihen, den sie in der direkten Reaktion scheinbar unterdrückt hatten.

 

Im musealen Rahmen

In Zusammenarbeit mit Dr. Lars Frühsorge von der Völkerkundesammlung Lübeck wurde am 20. August 2021 eine Performance durchgeführt, in der die Besucher:innen im Rahmen des musealen „safe spaces“ nochmals enger mit Performer:innen in sexualisierter Kleidung in Kontakt kamen und diesmal auch dazu eingeladen wurden, an kinky Praktiken teilzuhaben. Während einer Sonderführung durch das Museum St. Annen traten unvermittelt Performer:innen in verschiedener fetischisierter Kleidung unter die Besucher:innen, was vom (eingeweihten) Personal nicht weiter beachtet wurde. Auffällig war hier, dass die Besucher dadurch ebenfalls versuchten, die Performer:innen zu ignorieren und weiter der Führung beizuwohnen. Auch auf die etwas aktivere Bewegung der Performer:innen durch die Ausstellung hin wurde wenig bis nicht reagiert. Zum Abschluss der Führung löste Herr Dr. Frühsorge die Situation jedoch auf und lud zum gemeinsamen Gespräch und zu Workshops ein: Einige Performer:innen gaben eine Einführung in die Shibari-Fesselkunst, eine andere zeigte im Rahmen einer One-on-one-Performance diverse Praktiken aus dem BDSM-Bereich, die von den Besucher:innen am eigenen Leib ausprobiert werden konnten. Durch die museale Rahmung entstand hier eine hoch-neugierige und offene Atmosphäre und die Gesprächs- und Workshop-Angebote wurden sehr gut angenommen. Besucher:innen kommentierten hierbei, dass sie es toll fänden, etwas so außergewöhnliches zu erleben. Gerade beim Probieren der SM-Gegenstände wurde häufig lachend reagiert, insbesondere, um den umstehenden Zuschauer:innen zu signalisieren, dass man es eher als Spaß denn als Erregung empfinden würde: „Ich fand das schon sehr mysteriös und auch ein bisschen heiß, hätte mich jetzt aber unwohl dabei gefühlt, wenn die anderen das gesehen hätten. Ich hab dann halt eher gelacht, dann fühlt man sich so ein bisschen mehr in Kontrolle und nicht bloßgestellt.“ (ein Besucher, Mitte 30, im anschließenden Interview)

Gerade für die weiblichen Modelle ergaben sich interessanterweise erneut eine typische Frage: „Haben Sie Kinder?“ – „Ja, einen Sohn.“ – „Und weiß er davon?“ – „Nein, er ist erst drei Jahre alt.“ – „Werden Sie es ihm später sagen, dass Sie so was machen?“ – „Ich hoffe, mein Sohn wächst in einer Welt auf, wo so etwas nicht außergewöhnlich ist. Aber andererseits will wohl niemand von uns wissen, was unsere Eltern im Bett machen.“ (Allgemeines Gelächter)

Ethnologische Recherche

Im Rahmen dieser Zusammenarbeit wurde auch Quellenrecherche durchgeführt, woher die derzeitige Betrachtung von sexueller Devianz eigentlich kommt. Interessant war vor allem, woher die sprachliche Konnotation von insbesondere Devianz mit Sünde kommt: 1843 glaubte der ungarische Arzt Heinrich Kaan in seiner Schrift „Psychopathie sexualis“ christliche Sündenvorstellungen in sexuellem Verhalten wiederzuerkennen. Er interpretierte die Sünde neu: Sie war keine biblische Größe mehr, sondern eine Geistesstörung. Seit Kaan wurden Fetische und Kinks als sexuelle Störungen als Krankheitsbilder betrachtet. Später sollte Richard von Krafft-Ebing den gleichen Titel für sein Werk wählen und die Störungen in Sadismus und Masochismus aufteilen, was sich bis heute als Bezeichnung („SM“, „BDSM“) festgesetzt hat. Die Pathologisierung der Lust führte damit zur gesellschaftlichen Scham. Diese beiden Schriften gelten gemeinhin als Ausgangspunkt für die Stigmatisierung sexueller Abweichung.

Vor dem Gesetz

Besonders interessierte uns bei all dem aber auch der juristische Aspekt: Ab wann sprechen wir denn ganz sachlich von „Sexualisierung“? Der Strafbestand, der hier relevant wird, ist der der „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ (§ 183a StGB):

Wer öffentlich sexuelle Handlungen vornimmt und dadurch absichtlich oder wissentlich ein Ärgernis erregt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in § 183 mit Strafe bedroht ist. Rechtsanwalt Tommy Kujus (Kanzlei Kujus, Leipzig) erklärt hier zu aber: „Es kommt nicht darauf an, ob sich der Täter mittels der Handlung erregt. Abgestellt wird darauf, wie die Handlung von einem unbeteiligten Beobachter wahrgenommen wird.“

Die Erregung des öffentlichen Ärgernisses ist also kein normierter Sachverhalt, sondern basiert darauf, ob sich jemand belästigt fühlt. Um dies aber einzuschränken, erklärt Kujus weiter „Um ein Ausufern der Strafbarkeit zu vermeiden, muss es sich um eine sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit handeln“, sonst könnte beispielsweise auch Küssen bereits als sexualisierte Handlung betrachtet werden.

Eine klare juristische Definition davon, was eine rechtlich relevante Sexualisierung darstellt, gibt es in Deutschland nicht: „Letztlich muss mindestens eine Person die sexuelle Handlung wahrgenommen und als ein Ärgernis empfunden haben.  Die Handlung muss bei dieser Person negative Gefühle auslösen. Hierunter fallen etwa Scham, Abscheu, Ekel, Entsetzen oder Schrecken. Verspürt die Person hingegen Neugier, Belustigung oder lediglich Verwunderung, liegt keine Belästigung vor.“

Im internationalen Vergleich wäre dies eher einzigartig, beschreibt Kujus. „Vielfach wird § 183a StGB als nicht mehr zeitgemäß kritisiert.“

Politisches Ausmaß

Als letzter Faktor der Recherche betrachteten wir politische Dimensionen der Fetisch-Debatte: Auffallend war hier die Kontroverse um den „CSD-Bremen + Bremerhaven e.V.“, der in heftige Kritik für eine Aussage auf seiner Homepage geriet: Am 17. Juli 2021 aktualisierte der CSD Bremen in Hinblick auf die geplante Demonstration am 28. August seine Grundsätze: „… das Darstellen von Fetischen in der Öffentlichkeit finden wir nicht hilfreich, wenn wir bei der gleichen Demonstration und Kundgebung über Themen wie Asylrecht, trans Recht oder queere Krankenversorgung sprechen möchten.“ Dazu schrieben die Organisator:innen in ihrem mittlerweile abgeänderten Eintrag, Fetische könnten von Zuschauer:innen „sexuell gelesen“ werden, ohne dass diese darin eingewilligt hätten. „Ganz zu schweigen davon, dass die Sexualisierung von Frauen im Allgemeinen und Minderheiten im Besonderen problematisch genug ist.“

Die als „Fetisch-Verbot“ diskutierte Äußerung wurde teils heftig kritisiert: Angeprangert wurde u.a., dass das Stehen zu einer sexuellen Devianz nicht mit einer öffentlichen sexuellen Handlung gleichgesetzt werden dürfe. Der CSD Bremen hat den umstrittenen Abschnitt abgeändert: „Wir haben jetzt Fetisch durch Sex ersetzt. Wir entschuldigen uns dafür, dass wir zwei Sachen in einen Topf geworfen haben, die zwar Überschneidungen haben, aber nicht das Gleiche bedeuten.“

Weiterführende Gedanken

Aus den Recherchen lies sich festhalten, dass die Gesellschaft „Fetisch-Kleidung“ und „kinke Kleidung“ zwar durchaus sexualisiert wahrnimmt, hierin aber größtenteils keine Belästigung oder öffentliches Ärgernis sieht. Erfreulich ist festzuhalten, dass ein Großteil der Menschen der öffentlichen Darstellung von sexuell devianten Identitäten positiv gegenübersteht. Es steht die Vermutung, dass die queer Community (zu der auch die Kink- und Fetisch-Community gehört) hier bereits große Vorarbeit geleistet hat und die Wahrnehmung von der Norm abweichender Identitäten sich nachhaltig verbessert hat. Hinterfragt werden kann, ob dies gerade in Ballungsräumen wie Hamburg der Fall sei (im Gegensatz zu ländlichen Gegenden, in denen mitunter ganz andere soziale Umfelder vorliegen).

Die Frage „Wann ist’s Sex?“ lässt sich augenscheinlich jedoch leider auch klar beantworten: Wenn Kinder involviert sind. Fast alle negativen und verärgerten Reaktionen geschahen in diesem Zusammenhang. Scheinbar wurde befürchtet, dass Kinder und Jugendliche durch die Konfrontation mit „Fetisch“-Kleidung in ihrer sexuellen Entwicklung beeinträchtigt würden. Dass auch Alltagskleidung hochgradig sexualisiert ist (z.B. enge Röcke und bauchfreie Tops bei Frauen, Muscle-Shirts bei Männern) und so auch von Minderjährigen getragen wird, scheint hierbei keinen Einfluss zu haben. Es ist also davon auszugehen, dass es bei „Fetisch“-Kleidung mehr darum geht, dass sie gesellschaftlich als solche normiert ist, nicht darum, wie sie tatsächlich aussieht: Man sieht bei einem Catsuit immerhin deutlich weniger nackte Haut, als bei einem Tank-Top.

„Wann ist’s Sex?“ ist also objektiv nicht beantwortbar, nicht mal im juristischen Sinne. Viel mehr geht es darum, was man durch seinen sozialen und kulturellen Hintergrund als sexualisiert erlernt hat. Während v.a. in den 70ern und 80ern die schwarze Leder-Jacke noch mit der Schwulen-Bewegung verbunden war, ist sie heute Bestandteil jedes H&M-Standard-Outfits, auch für Frauen. Auch die Latex-Leggins hält mittlerweile ihren Einzug in die Alltagsmode (erneut jedoch eher bei Frauen). Der gesellschaftliche Diskurs darüber, was sexualisiert ist, scheint also (mitunter marktwirtschaftlichen) Strömungen unterworfen und sich offener zu entwickeln.

Wie mit der Konfrontation von Kindern mit dieser „sexual imagery“ umzugehen ist, scheint gesellschaftlich noch nicht beantwortet. Hier ist pädagogische Forschung notwendig.

XelK zieht aus diesen Ergebnissen den Schluss, dass eine kulturell-künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema der Sexualisierung gerade jetzt notwendig ist, um den queeren Diskurs zu stärken und in der Gesellschaft ankommen zu lassen. Aus diesem Grund wird aus den Erfahrungen nun ein künstlerisch-theatrales Projekt entwickelt, dass an diesem Prozess mitwirken soll.