Eine kurze Geschichte der sexuellen Liberalisierung
Eine kurze Geschichte der sexuellen Liberalisierung

Eine kurze Geschichte der sexuellen Liberalisierung

Eine kurze Geschichte der sexuellen Liberalisierung

Berlin kann auf eine lange Geschichte als Wiege sexueller Emanzipation verweisen. Schon im Jahre 1919 öffnet hier das weltweit erste „Institut für Sexuelle Wissenschaft“ im Tiergarten, an der Ecke Beethovenstraße / in den Zelten, wo unter Leitung des Arztes Markus Hirschfeld nicht nur geforscht und dokumentiert, sondern auch gelehrt und behandelt wird. Allein im ersten Jahr führt das Institut 1.800 Konsultationen zu sexuellen Störungen durch, neben Kursen und Vorträgen. Viele der so genannten „Störungen“ sind leicht zu beheben: „Ja, es ist in Ordnung, sich in das gleiche Geschlecht zu verlieben.“, „Nein, es ist nicht gefährlich, täglich Sex zu haben.“, etc. Das Institut beherbergt außerdem ein Museum mit Informationen und Ausstellungsstücken zu den unterschiedlichsten Praktiken und Fetischen und wird von einer breiten Unterstützer-Gemeinde getragen, viele Angebote sind umsonst.

Der gerade verlorene Krieg und der Zerfall des Kaiserreichs begünstigen eine Abkehr von überkommener Moral und verbrauchten Regeln. Unter Aufsicht eher liberaler Behörden entwickelt Berlin in den folgenden Jahren eine unglaubliche Vielfalt an Vergnügungsstätten für jeden sexuellen Geschmack und wird zum Mekka für die Freigeister der Zeit. Homosexuelle, Fetischisten und Libertäre aus der ganzen Welt zelebrieren die neue Freiheit in Clubs, Bars, Tanzhallen und den ersten Darkrooms. Auch im öffentlichen Raum sieht man gleichgeschlechtliche Paare Zärtlichkeiten austauschen: einmalig im Europa dieser Zeit, immer noch undenkbar in vielen Ländern der Welt heute, fast hundert Jahre später.

Neue Entwicklungen in Medizin und Wissenschaft, sowie die Anfänge der Psychoanalyse, lenken die Aufmerksamkeit auf den sexuellen Körper, der erstmals zum akzeptierten Forschungsobjekt wird. Dennoch wagen es nur wenige Prominente – wie Hirschfeld – die eigene homosexuelle Orientierung öffentlich zu machen. Prinz von Eulenburg, vor dem Krieg engster Berater von Kaiser Wilhelm, sowie Walter Rathenau, der spätere sozialdemokratische Außenminister bleiben „im Schrank“.

Die Erkenntnis, dass Sexualität sich nicht normieren lässt, setzt sich bereits durch, dennoch fehlen der Mut und die Mittel zur selbstbewussten Verkörperung solcher Ideen. Die immer noch von Imperialismus, Militarismus, Katholizismus und anderen Ismen geprägte Kultur der Zeit, durchtränkt das kollektive Bewusstsein mit Schuld, Scham und Angst in sexuellen Dingen. Der Anspruch auf sexuelle Freiheit kann sich in diesem psychosozialen Umfeld nur als kontrollierter, inszenierter Tabubruch – idealtypisch und tragisch verkörpert im kurzen Leben der Avantgarde-Tänzerin Anita Berber – verwirklichen, ohne die Möglichkeit als selbstverständliche, alltägliche Wahl akzeptiert zu werden.

Wenige Jahre später wird diese Berliner Idylle vom Faschismus hinweggewischt, dessen Totalitätsanspruch den gesamten „Volkskörper“ beansprucht. Die – durchaus existenten – sozialistischen und emanzipatorischen Strömungen im frühen Nationalsozialismus werden eliminiert, als es gilt mehrheitsfähiger Mainstream zu werden: der offen homosexuell lebende SA-Führer Ernst Röhm wird 1934 entmachtet und ermordet.

Viele Jahre müssen vergehen, bevor eine neue Generation sich an das Thema wagt. Eine ehemalige Wehrmachtsfliegerin verlegt sich in den gebärfreudigen Fünfziger auf das Sex-Business und versorgt deutsche Schlafzimmer mit Gleitgel und Kondomen: Beate Uhse und die 1961 auf den Markt gekommene „Pille“ ermöglichen Verhütung und Schwangerschaftskontrolle, helfen den Deutschen sich ihre Sexualität zurückzuerobern und bereiten damit den Weg für die sexuelle Revolution, die die Sechziger prägt. Der Begriff „Sexuelle Revolution“ wurde von Wilhelm Reich geprägt, dessen gleichnamiges Werk von 1936(!) erst 1966 auf deutsch erscheint und dessen Forschung die ersten körperpraktischen Therapien inspiriert. Ein weiterer Vordenker ist Herbert Marcuse, dessen 1957 veröffentlichtes Buch „Triebstruktur und Gesellschaft“ zehn Jahre später von der 68’er Bewegung wieder entdeckt wird.

Mit der sexuellen Selbstbestimmung der APO-Sympathisanten und Hippies ist es noch nicht weit her: Erst einmal werden alte Dogmen durch neue ersetzt. Romantische Liebe und Ehe werden zum neuen Tabu, der sexuelle Aufstand wird mit der gleichen Verbissenheit geprobt wie der politische; die 68er scheitern an der Unfähigkeit emotional zu verdauen was rational geboten scheint. Immerhin wird 1969 in Westdeutschland endlich der schon von Hirschfeld bekämpfte §175 reformiert (ganz abgeschafft wird er erst 1994!), der bis dahin sexuelle Betätigung zwischen Männern unter Strafe stellte. Kurioserweise nicht zwischen Frauen! Zwischen 1945 und 1969 werden um die 100.000 homosexuelle Männer wegen dieses Paragraphen strafrechtlich verfolgt, etwa die Hälfte davon verbüßt Freiheitsstrafen. Eine weitere Folge von 1968: die Schweiz verschafft dem weiblichen Teil ihrer Bevölkerung endlich das Wahlrecht, im Jahre – man glaubt es kaum – 1970. Ab 1977 dürfen Frauen in der BRD sogar Arbeitsverträge abschließen, ohne die Erlaubnis ihres Ehemanns einholen zu müssen.

Ende der 70er bemüht man sich in progressiven Westberliner Kommunen mit deutscher Gründlichkeit um die freie Liebe; Sex wird genauso kollektiv organisiert wie der gemeinsame Abwasch. In Wien beginnt AAO-Gründer Otto Mühl seine Experimente zur Schaffung des neuen, sexuell befreiten Menschen; überall in Europa bewirtschaften ländliche Gemeinschaften gemeinsam Kräutergarten und Töpferei, teilen entschlossen und oft etwas unbeholfen Tisch und Bett. All diese gut gemeinten und oft auch richtig gedachten Pioniertaten scheitern letztendlich auch an der naiven Überzeugung das Phänomen Sex kontrollieren zu können; am törichten Glauben es genüge alte Normen durch neue zu ersetzen. Das Desaster ist vorprogrammiert, neue Ideen sind gefragt.

In den späten Siebzigern und Achtzigern öffnet sich, ausgelöst durch die Begegnung westlicher Körperarbeiter und Therapeuten mit den neo-tantrischen Lehren des Gurus Rajneesh „Osho“ in Poona, ein neues Feld der Forschung: der spirituelle Sex – Vögeln als Pfad zur Erleuchtung – ist erfunden. Welcher westliche Sinn-Sucher kann da widerstehen? Die tantrische Bewegung ist ein voller Erfolg. Eine ganze Industrie entsteht in den Folgejahren, ganz entspannt im Hier und Jetzt. In Berlin tanzt man rauchfrei und barfuss im „Far Out“ am Adenauerplatz und eine ganze Reihe Institute für tantrische Praktiken öffnen ihre Pforten. Für aufgeschlossene Paare der akademischen Mittelschicht gehört die Teilnahme an einem beziehungsauffrischenden Tantrakurs mittlerweile zum „Life-Style“.

Zeitgleich, auf der anderen Seite der Welt in San Francisco, Kalifornien entdecken alternde Hippies wie Janet Hardy und Dossie Easton die Wunderwelt des BDSM. Es ist zuerst die queere Community der Leather Folks und schwulen Saunagänger, die schon früh die stimulierende Wirkung härterer Praktiken entdeckt und Macht und Ohnmacht, Dominanz und Unterwerfung, als wesentliche Elemente von Sexualität würdigen. Mittendrin in der kalifornischen SM-Szene, der Schutzheilige aller Perversen und Performer, Michel Foucault, der mit dem Prinzip von „Sexualität als sozialer Konstruktion“ auch den philosophischen Überbau zum Spiel mit Schmerz und Lust liefert. Wenig später erklärt Judith Butler Gender zur kulturell geformten Performance und betont die Notwendigkeit sich der Gewalt zu widersetzen, die durch idealtypische Geschlechternormen ausgeübt wird.

Somit einem theoretischen Überbau versehen und einmal das beruhigende Fangnetz „Safe, Sane, Consensual“ (Sicherheit, gesunder Menschenverstand und Einvernehmlichkeit) aufgespannt, expandiert BDSM rasch vom queeren in den heterosexuellen Mainstream. Das Internet trägt wesentlich zur Organisation und Vernetzung der Szene bei: hier finden sich Gleichgesinnte auch für die ungewöhnlichste Neigung, der Perverse ist nicht mehr allein.

In Europa entwickeln Psychoanalytiker, Körpertherapeuten und Eheberater derweil neue Konzepte von Liebe und Beziehung, revolutionieren und erfinden Techniken zum Umgang mit sexueller Prägung, mit Missbrauch und Trauma. Die Gesellschaft hat längst das Prinzip der Unauflöslichkeit der Ehe aufgegeben, bald wird auch die Monogamie an sich infrage gestellt und eifrig nach neuen Beziehungsformen gefahndet. Hedonistische Partygänger eröffnen 1994 in Berlin den „KitKatClub“, der den One Night Stand pragmatisch gleich in den Club verlegt. 2001 bringt nicht zuletzt der entspannte Umgang mit seiner Sexualität den Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit ins Amt. Und heute, mit „Fifty Shades of Grey“, der aktuellen Neufassung der Dornröschen-Geschichte – 125 Millionen verkaufter Exemplare weltweit – beginnt auch der Normalbürger zu ahnen, dass SM eine schöne Sache ist.

Felix Ruckert ist Tänzer, Choreograph, Konzeptkünstler und Kurator. Er inszeniert Events, performt, lehrt und veranstaltet Workshops, wobei er seine Kenntnisse aus dem Tanz mit einem einzigartigen Ansatz von BDSM-Praktiken und bewusster Sexualität verbindet. Außerdem ist er als Musiker tätig.

Seit 2004 leitet Felix das jährliche xplore-Festival in Berlin und kuratiert dessen internationale Ableger, mit mittlerweile 31 Veranstaltungen in sieben Ländern. Seit 2012 leitet er außerdem die EURIX – The European Rigger & Model Exchange, ein halbjährliches Festival in Berlin, das sich Bondage als Kunstform widmet.


Foto:
Portrait-Bild (oben): Ayoto Ataraxia (www.ayotoataraxia.com)
Portrait-Bild (unten): Julia Tham (www.foto-tham.de)
Titelbild: Jeison Higuita

Literaturhinweise:

Martin Dubermann: Jews Queers Germans / Seven Stories Press / 2017 Grayson Perry: The Descent of Man / Allen Lane / 2016
Bessel van der Kolk: The Body Keeps the Score / Penguin Books /2015 Andreas Weber: Lebendigkeit – Eine erotische Ökologie / Matthes&Seitz / 2014 Marty Klein: Sexual Intelligence / HarperOne / 2012

Dossie Easton & Janet Hardy: Radical Ecstacy / Greenery Press / 2012 Eva Illouz: Warum Liebe wehtut / Suhrkamp / 2012Dossie Easton & Janet Hardy: The Ethical Slut / Greenery Press / 1995