Lasst uns drüber reden
Lasst uns drüber reden

Lasst uns drüber reden

Über vier Monate nach der Geburt stand ich nach dem Sex mit Tränen in den Augen in der Küche. Als mein Mann mich fragend ansah, atmete ich durch und sagte: „Endlich hat es sich wieder angefühlt wie richtiger Sex!“ 

Ja, endlich: Nicht mehr ständig verkrampfen aus Angst vor Schmerzen. Für ein paar Minuten keine Frustration, sondern einfach nur Lust – ein gutes Gefühl.

Da ist „auf einmal ein Geschöpf, das die Kraft und Energie seiner Eltern wie ein schwarzes Loch absorbiert.“

„Kinder verstehen“ von Herbert Renz-Polster

In den folgenden Monaten warteten aber gleich die nächsten Herausforderungen auf uns: Erschöpfung, wie wir sie vorher nicht kannten. Müdigkeit. 

Sehr unterschiedliche Lebenswelten in unserem Alltag, seit mein Mann wieder arbeitet und ich nach wie vor Vollzeit zu Hause bin. Weniger „Familienzeit“ als erwartet, dafür umso mehr unerledigte Aufgaben und kaum noch Zeit als Liebespaar.

Man erwartet oft viel vom weit verbreiteten Bild des „Familienglücks. (…) Entgegen der Folklore beginnt für die Beziehung der Eltern (nach der Geburt aber) eine emotionale Durststrecke, und auch körperlich herrscht eine ganze Zeit recht eingeschränkter Verkehr. (…) Da hilft nur eines: realistisch sein. Das Leben mit einem jungen Säugling ist Extremarbeit, und es ist in der Tat eine Sollbruchstelle für jede auch noch so romantische Beziehung.“

„Kinder verstehen“ von Herbert Renz-Polster

Eine weitere große Herausforderung: Dass ich als stillende Mutter ständig irgendwie verfügbar sein muss. Natürlich gibt es Momente, in denen ich alleine tun kann, was ich möchte – aber es kann jederzeit passieren, dass ich für mein Kind da sein muss. Und das kann fast nie aufgeschoben und oft auch nicht delegiert werden. Also bin ich da, wenn mein Baby mich braucht: jederzeit, in jeder Form, die mir möglich ist – egal ob ich Lust habe oder erschöpft bin. Und auch wenn es anstrengend ist, bin ich das gerne, denn es ist wunderschön, so sehr lieben zu dürfen. In diesem Modus bleibt allerdings wenig Freiraum für mich. In ruhigen Momenten bin ich deshalb froh, einfach ein wenig Zeit für mich selbst zu haben – und Sex ist dann nicht gerade das Erste, an was ich denke.

„Erschrecken Sie aber nicht, wenn (…) Ihnen (…) kleine Milchfontänen aus den Brüsten spritzen“, zum Beispiel beim Orgasmus.

„Hebammen Gesundheitswissen“ von Silvia Höfer und Nora Szász (GU)

Ein anderer Faktor, der sich ebenfalls auf die Sexualität mit meinem Mann auswirkt, ist eine Verschiebung in Sachen körperlicher Nähe: momentan kuschele ich mehr mit meinem Baby als mit meinem Mann. Entscheidend dafür ist nicht nur, dass ich extrem viel Zeit mit meinem Kind verbringe, sondern auch die Tatsache, dass ich es stille: Meine Brust dient nicht nur als Nahrungsquelle, sondern auch als Beruhigung, Kuschelmöglichkeit, Einschlafhilfe und Trost. Außerdem führt die Hormonlage beim Stillen zu einer außergewöhnlich engen Interaktion von Mutter und Kind. Beispielsweise sind meine Schlafrhythmen mit denen des Babys abgestimmt und ich habe nicht nur auf mentaler, sondern auch auf körperlicher Ebene feinste Antennen für die  Geräusche und Stimmungen des Babys: Forschende konnten beispielsweise feststellen, dass sich beim Kuscheln die Körpertemperatur von Müttern im Hautkontakt mit ihrem jungen Säugling so ändert, dass sie regulierend auf die Körpertemperatur des Neugeborenen wirkt (1). Hört eine stillende Mutter ihr Baby schreien, kann allein das schon den Milchspendereflex auslösen – selbst wenn sie ihren Liebling nicht einmal sieht. 

Diese Beispiele machen klar, wie eng die Verbindung der Mutter zum Kind ist, auf dem ja ohnehin schon der Fokus beider Eltern liegt. Das verschiebt natürlich einiges im Beziehungsgefüge; man wird vom Liebespaar zum Elterngespann. In unserem Fall lag das Baby im wortwörtlichen Sinne auch eine Zeitlang zwischen uns. Für mich und meinen Mann ergeben sich also in der momentanen Situation einfach deutlich weniger Kuschelsituationen, aus denen die körperliche Vertrautheit entsteht, die sexuelle Lust bei mir oft erst entstehen lässt.

Stattdessen ergeben sich im Alltag zwangsläufig „Kapazitätskonflikte“. Das gemeinsame Baby braucht unsere Betreuung, Kraft und Unterstützung. Einer von beiden muss bei ihm bleiben. Das heißt, dass ich nur etwas allein machen kann, wenn mein Mann sich ums Kind kümmert – und umgekehrt. Wir sind also stärker aufeinander angewiesen als je zuvor. In Stresssituationen bräuchte jeder von uns mehr Zeit für Erledigungen oder zur Erholung, und wir müssen austarieren, wie wir die unzureichende „freie“ Zeit verteilen. Natürlich ist das machbar, einfach ist es aber nicht. Es gelingt uns immer wieder aufs Neue und ich bin froh über die gute Basis, die wir haben. Dennoch ist es mit Spannungen verbunden. So voneinander abhängig zu sein, hemmt aus meiner Sicht ebenfalls die Lust auf Sex, für die es bei mir eine gewisse Leichtigkeit braucht.

Übrigens: Wie oft ein Baby gestillt werden muss, hängt von sehr vielen verschiedenen Faktoren ab, die sich aus der Einstellung der Eltern, dem Charakter des Kindes und den äußeren Umständen ergeben. Das gleiche gilt für die Frage, ab wann ein Baby durch eine andere Person betreut werden kann. Dementsprechend gibt es hierzu keine allgemeine, sondern immer nur eine individuelle Antwort. Wir als Familie sind momentan noch nicht bereit dazu.

„Beziehungen in der Familie KÖNNEN aus evolutionsbiologischer Sicht gar nicht immer harmonisch sein, denn auf den elterlichen Kapazitäten befindet sich ein Deckel.“ Aufgrund dieser Begrenzung entstehen nach der Geburt eines Kindes an verschiedenen Stellen „Verteilungskonflikte“.

„Kinder verstehen“ von Herbert Renz-Polster

Unsere Sexualität wieder erblühen zu lassen, ist ein fortlaufender Prozess – wir bleiben dran, könnte man sagen. Kürzlich hatte ich zum ersten Mal wieder Lust, halterlose Strümpfe zu tragen, die mein Mann so sehr liebt. Und obwohl ich sehr müde war, hatten wir einfach richtig Spaß beim Sex. Ganz so wie früher ist es aber immer noch nicht. Und das ist okay so. 

Es darf so sein, sage ich mir immer wieder selbst. Ich möchte das Thema im Blick behalten, aber mir gleichzeitig möglichst keine Sorgen darüber machen. Denn es ist normal, dass die Häufigkeit und die Qualität der Sexualität schwankt.

Und alles hat seine Zeit. Ich liebe mein Baby und meinen Mann. Ein Kind zu bekommen, war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Meine Libido mag dabei etwas ins Hintertreffen geraten sein, aber es wird die Zeit kommen, in der ich sie wieder mehr pflegen kann und sie wieder mehr Raum in meinem Leben einnimmt. 

„In der Zeit nach der Geburt, wenn Sie voll stillen und die Nächte unruhig sind, Schlafmangel und unermüdlicher Einsatz für das Kind Ihren Alltag bestimmen, erscheint oftmals das Thema Sexualität für Sie oder auch für Sie beide weit weg. Wenn es Ihnen genau so geht, befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Studien zeigen, dass 60 bis 80 Prozent aller Paare zumindest vorübergehend sexuelle Probleme nach der Geburt haben. Setzen Sie sich also nicht unter Leistungsdruck, dies ist ganz normal.“

„Hebammen Gesundheitswissen“ von Silvia Höfer und Nora Szász (GU)

Allen, denen es ähnlich geht – sei es, weil ihr Eltern geworden seid oder aus anderen Gründen – möchte ich sagen: ihr seid nicht allein. Lasst es uns normalisieren, dass unsere Libido manchmal eine Zeitlang auf Sparflamme läuft! 


Um zu zeigen, wie vielfältig dieser Bereich ist und wie viele Menschen das Thema betrifft, habe ich nach der Fertigstellung meines Erfahrungsberichts weitere Stimmen aus meinem Umfeld zusammengetragen. Ich danke allen, die so offen waren, über ihre Erfahrung zu sprechen! 

„Durch meine Hormonersatzbehandlung als Trans-Frau ist meine Libido gesunken. Als ‚Gray Ace‘ bin ich auch sehr glücklich darum, da es auch den körperlichen Druck rausnimmt, von mir aus Sex zu haben. Denn ich empfinde sexuelle Anziehung nur sehr wenig und gedämpft. Also wenn ich Sex habe, dann hat das in der Regel andere Gründe – etwa welche, die sich aus der Beziehung ergeben. Dabei sind Orgasmen und Interaktion mit meinen Genitalien nichts, was ich anstrebe oder womit ich mich gut fühle. Die sexuellen Funktionen sind alle gegeben, aber ich habe keinen körperlichen Drang, sie auch wahrzunehmen. Ich musste erst lernen, körperliche Libido zu trennen von sexueller Anziehung. Und es geht mir besser, seit ich eben keinen körperlichen Drang zu Sex mehr habe. Da ich Libido mittlerweile als unangenehm empfinde, ist ihr Rückgang für mich positiv. Ihre Verringerung hat mir auch geholfen, zu erkennen, dass ich ‚ace‘ bin.“

„Deine Frage (Betrifft euch das Thema verminderte Libido? (Warum) sprecht ihr (nicht) drüber? Woran lag es bei euch?) trifft mich gerade sehr. Ich hatte im Sommer Corona mit eher schwerem Verlauf. Vorher hatte ich für eine Cis-Frau eine vergleichsweise hohe Libido. Ich hatte täglich mehrmals Lust auf Zweisamkeit und Masturbation. Seit meiner Krankheit fühle ich wesentlich weniger Verlangen. Ich fühle mich ein wenig wie eine Maschine, die von 100% auf 10% gedrosselt wurde. Die plötzliche Veränderung erfordert gerade viel Kommunikation in meiner Beziehung, da noch alte Verhaltensmuster vorhanden sind. Zum Glück gibt mit ‚Sexten‘ noch emotionale Nähe und ich kann Reaktionen von Partnermenschen genießen, auch wenn es mich grade nicht ‚horny‘ macht.“

„Bei mir hängt die Libido sehr stark von äußeren Einflüssen ab. Wenn ich einfach so vor mich her lebe, hab’ ich mich schon oft gefragt, ob ich mich im ‚Ace-Spektrum‘ sehe. Aber dann mach’ ich wieder was mit einem Partner oder einer neuen Bekanntschaft und meine Libido geht durch die Decke. Dann habe ich auch wieder Lust und Inspiration, allein zu masturbieren oder zu spielen, obwohl das meistens dann auch um Fantasien mit diesen Menschen geht. Es hat nichts damit zu tun, dass ich allein keine Inspiration habe, aber ich liebe Verbindungen zu anderen und brauche das, um von ‚Stand-by‘ auf Hochfahren zu schalten. Der englische Spruch ‚Basically, people are my turn-on.‘ trifft es sehr gut.“

„Bei mir kam es nach traumatischen Missbrauchserlebnissen dazu, dass ich erstmal keinen, weniger oder auch sehr viel mehr Sex wollte. Kommunikation und Einfühlungsvermögen von meinen Partner*innen ist mir da sehr wichtig. Mich hat es sehr belastet, wenn mein Unwille, der daher kam, dass ich noch nicht wieder bereit war, meinen Körper zu teilen, als fehlendes Vertrauen in Partnermenschen interpretiert wurde. Ich musste mich erstmal damit auseinandersetzen, wie ich mich jetzt mit mir und meiner Sexualität fühle, nachdem etwas passiert ist, bevor ich die Kontrolle darüber mit anderen teile. Wenn ich mehr Sex wollte, dann auch unter der Prämisse, dass ich initiiere und mir der Freiraum gegeben wird, meinen ‚Safe Space‘ dafür zu gestalten. Auch das traf teilweise auf Unverständnis.“

„Meine Libido schläft seit etwa eineinhalb Jahren. Mittlerweile spüre ich meine Klitoris nur noch sehr wenig. Ich kann mir einen Vibrator dran halten und spüre, dass da was vibriert, aber es kommt nicht an. Ich brauche deutlich länger, um zum Orgasmus zu kommen als früher. Der Verlust der Libido oder einfach die Lebensumstände belasten mich schon sehr. Denn auch die Art des Sex hat sich geändert.
Zuerst dachte ich, dass die Pille schuld ist. Ich habe diese dann für ein paar Wochen zur Probe abgesetzt, aber dann kamen meine Endometriose-Schmerzen zurück und darauf habe ich gar keinen Bock; hab’ schon genug Scheiß um die Ohren. Das Absetzen der Pille hat an meiner Libido aber auch nichts geändert. Ich vermute daher, dass es durch die beiden Antidepressiva kommt, die ich derzeit in Absprache mit meinem Arzt nehme. Aber vielleicht liegt es auch einfach an den Lebensumständen – keine Ahnung.“

„Meine Libido ist in der Regel eher hoch, deswegen fällt es mir auch schnell auf, wenn meine Lust auf Sexualität sinkt. Das hängt bei mir dann immer mit der Dynamik mit der anderen Person zusammen, ist also relational. Ein Beispiel dafür kann sein, dass es der anderen Person nicht gut geht, dass es grade in der zwischenmenschlichen Beziehung zueinander nicht rund läuft oder dass die andere Person signalisiert, keine Lust auf Sexualität zu haben. In den Fällen sinkt meine Libido dann schnell gen Null (was keinen negativen Einfluss auf mein Nähebedürfnis hat) und das empfinde ich dann auch als passend, weil es mir ermöglicht, mich noch fokussierter auf anderen Ebenen auf die andere Person einzulassen.
Auf Solo-Sex hat das bei mir dann aber keinen Einfluss.“

„Ich habe auch damit zu kämpfen, dass meine Lust nicht mehr richtig funktioniert. Libido ist zwar da, aber ich habe Erektionsprobleme als Nebenwirkung von Medikamenten, die ich vermutlich noch sehr lange nehmen muss. Ich bin seit vielen Jahren Single; deswegen kann ich auch nicht wirklich darüber berichten, wie sich das in einer Beziehung auswirkt.
Zu allem Übel brauche ich noch eine tiefe emotionale Bindung, bevor ich erfüllende Erotik erleben kann. Penetrationssex hatte ich seit knapp 15 Jahren nicht mehr und den vermisse ich auch nicht wirklich. 2021 habe ich die ständige Distanz nicht mehr ausgehalten und mich mit einer alten Freundin getroffen; war leider so nervös, dass ich nicht konnte; ein wirklich frustrierendes Erlebnis.
Auch mir fällt es schwer, über meine Sexlosigkeit zu sprechen, denn als Mann gilt man schnell als Jammerlappen und ‚notgeil‘.“

„Meine Lust ist stark abhängig vom Belastungszustand, vor allen Arbeit, Stress – je mehr, desto weniger Lust habe ich. Leider ist es ein ‚Teufelskreis‘: je weniger Lust ich habe, desto weniger bin ich sexuell aktiv, was dazu führt, dass ich mich daran zu gewöhnen scheine und noch weniger Lust habe. Das funktioniert auch in die andere Richtung: je mehr Lust ich habe, umso mehr bin ich sexuell aktiv, was wiederum zu noch mehr Lust führt. Ich erlebe da wenig Mittelmaß, fühle mich aber mit hoher Libido deutlich wohler.“


(1) Kinder verstehen – Herbert Renz-Polster

Photo: tabitha turner (Unsplash)

Kinder verstehen – Herbert Renz-Polster

Hebammen Gesundheitswissen – Silvia Höfer und Nora Szász (GU)