Gewalt während der Geburt
„Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Schmerzen schaffen,
Mose 1, 3:16
wenn du schwanger wirst; du sollst mit Schmerzen Kinder gebären;”
Seit 2013 werden jedes Jahr am 25. November Opfer der Respektlosigkeit und Gewalt während der Geburt dazu aufgerufen, eine Rose am Ort ihrer Erfahrungen zu hinterlassen. Genannt wird die Aktion „Roses Revolution“ und Ziel ist, eine friedliche Revolution gegen gewaltsame Taten gegenüber Frauen in der Geburtshilfe zu starten. 2018 waren über 30 Länder an der Aktion beteiligt, darunter auch Deutschland.
Was aber mit Gewalt während der Geburt oder bei der Geburtshilfe gemeint ist und wie schwerwiegend dieses Problem in Deutschland ist, ist Vielen nicht bewusst.
Tatsächlich bin ich bei meiner Recherche auf einige Schwierigkeiten gestoßen. Einerseits, weil viele Frauen nicht wissen, was als Gewalttat während der Geburt gilt, und andererseits, weil viele Frauen aufgrund von sozialen Normen nicht darüber reden. Hauptsache, das Baby ist gesund, aber was ist mit der Mutter?
Julia Leinweber ist Professorin für Hebammenwissenschaften an der Evangelischen Hochschule Berlin und belegt, es gäbe keine quantitativen Studien dazu, wie viele Frauen in Deutschland Gewalt in der Geburt erleben. Sie spricht sogar von einer Forschungslücke. Man hätte sich zu sehr auf körperliche Folgen und Gesundheit des Kindes fokussiert und das, vor allem subjektive, Geburtserleben der Mutter außer Acht gelassen. Dass es sich hier jedoch nicht um Einzelfälle handelt, kann sie bestätigen. Auch eine Umfrage „Hebammen schlagen Alarm“ von Stern TV, bestätigt den Verdacht. 56% der mehr als zehntausend Befragten gaben an, Gewalt erlebt zu haben.
„Gewalt in der Geburtshilfe sind Handlungen, Vorgänge und/oder systemische sowie soziale Zusammenhänge, die sich während der Schwangerschaft, unter der Geburt oder im Wochenbett negativ beeinflussend, verändernd oder schädigend auf Frauen, gebärfähige Menschen und ihre (ungeborenen) Kinder auswirken.”
Allgemein wird die Gewalt, die Frauen und Mütter in dieser Zeit erfahren, in drei Formen unterteilt: physisch, psychisch und strukturell. Ausgeübt wird diese „durch medizinisches Personal oder andere in Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett beteiligte Menschen”. Der Fokus soll hier aber vor allem bei der Gewalt liegen, die vom Personal ausgeht.
Physische Gewalt
Als physische Gewalt gelten – logisch nachvollziehbar – Handlungen wie Festhalten, Fesseln, Schlagen oder Kneifen, aber unter anderem auch Dinge, die nicht sofort als Gewalt aufgefasst werden.
Zum Beispiel, die Mutter dazu zu zwingen, während der Wehen still zu liegen und leise zu sein oder auch eine bestimmte Geburtsposition einzuhalten.
Die oft aufgezwungene oder empfohlene Position ist die Steinschnittlage. Das bedeutet: auf dem Rücken liegen und die Beine ca. 90 Grad anwinkeln. In Deutschland gebären ca. drei Viertel aller Mütter in dieser waagerechten Position, obwohl Studien suggerieren, dass dies nicht die optimale Position für Mutter oder Kind ist. Favorisiert wird vom Personal diese Position, da die Untersuchung des Geburtsverlaufes so einfacher ist. Dass diese Position aber der Mutter die Geburt erschwert, wird oft nicht in Betracht gezogen.
Im Vergleich zur waagerechten Lage scheint eine senkrechte Position der Mutter vor allem in der ersten Phase der Geburt mit weniger Schmerzen und somit niedrigerem Bedarf an Schmerzmitteln und einem schnelleren Geburtsverlauf assoziiert zu sein. Tatsächlich scheint auch das Risiko ungeplanter und ungewollter Interventionen zu sinken.
Da wir schon bei ungewollten oder unerwünschten Interventionen sind, auch diese können unter anderem zur physischen Gewalt zählen, vor allem dann, wenn sie ohne Einverständnis oder medizinische Notwendigkeit durchgeführt werden. Stichwort Dammschnitt, eine Intervention bei der sich selbst die Medizin nicht einig ist, wie sinnvoll diese tatsächlich ist. In Kliniken wird bei ca. 20% der Geburten ein Dammschnitt durchgeführt, aber nur bei 4,6% der außenklinischen Geburten. Bei der gleichen Umfrage waren die am häufigsten erlebten Formen der physischen Gewalt mit 44,2% zu grobe oder häufige vaginale Untersuchungen und mit 34,6% der Kristeller-Handgriff.
Überraschend hoher Prozentsatz, denn sowohl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als auch die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe sprechen sich gegen diese Methode aus. Bei genau wie vielen Geburten von dieser Methode noch Gebrauch gemacht wird, ist unklar. Chefarzt der Abteilung für Geburtshilfe in Nürnberg Franz Kainer bestätigt jedoch deren Anwendung in Kreißsälen. Warum fehlen aber eindeutige Statistiken und Informationen? Die Antwort ist eine ziemlich einfache und verstörende zugleich: Geburtsklinken sind nicht gezwungen darüber Rechenschaft abzulegen.
Psychische Gewalt
Und selbst wenn diese Interventionen durchgeführt werden müssen, kategorisiert Roses Revolution, den Schwangeren keine echte Wahlfreiheit gelassen zu haben, auch als eine Form der Gewalt, und zwar der psychischen Gewalt. In der oben erwähnten Umfrage des Stern gaben 91% der Frauen an, sich nicht ausreichend vom Personal informiert gefühlt zu haben. Das bedeutet, nicht einmal 10% der zehntausend Frauen haben sich hinreichend informiert und sicher gefühlt. Ganzen 31,8% wurden Medikamente verabreicht, ohne die Patientin davor über deren Zweck aufgeklärt zu haben, und 21,9% erfuhren Gewalt in Form einer unaufgeforderten Einleitung der Geburt. Diese Umfrage liefert alarmierende Zahlen. Unter anderem gaben 46% der Frauen an, verbale Attacken erfahren zu haben, in Form von Anschreien, Beschimpfen und Auslachen.
Strukturelle Gewalt
Hier stehen vor allem fehlende Kapazitäten, zum Beispiel Raumkapatzitäten, Personalmangel und unzureichende Hebammenversorgung im Vordergrund. Wie diese strukturellen Probleme die Erfahrung von Schwangeren beeinträchtigen können, ist klar. Sie tragen zu Stress, Angst und Unsicherheit bei. Diese Probleme sind aber übergreifend, es gibt sie im jedem Bereich der Medizin und sie erklären nicht die vom Personal ausgehenden Gewalttaten während einer Geburt. Wieso ist dann vor allem bei der Geburtshilfe Gewalt so ein riesiges Thema? Der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe sieht die Hauptursache eher weniger in Klinikstrukturen, sondern spricht von einem menschlichen Problem statt Überlastung. Die Gewalt, der gebärende Frauen ausgesetzt werden, ist also nicht mit strukturellen Problemen oder Mängeln zu begründen oder zu entschuldigen.
Gender Pain Gap und Gender Health Gap
Nun fragt man sich, wie kann es sein, dass 20% der Geburten von Gebärenden als traumatisch eingeschätzt werden und 3% sogar eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln? Klar spielen hier auch Faktoren wie Vorbelastung der Gebärenden eine Rolle, aber wir wissen, dass die Erfahrungen und Erlebnisse während der Geburt eine entscheidende Rolle spielen. Für mich liegen die Hauptgründe im Gender Pain Gap und Gender Health Gap. Ersteres beschreibt die Diskrepanz an erfahrenem Schmerz zwischen Männern und Frauen. Hiernach erleiden Frauen nicht nur durchschnittlich mehr Schmerzen, Ärzte tendieren auch dazu, diese Schmerzen zu unterschätzen. Eng damit verbunden ist der Gender Health Gap, der auf die Normierung der Medizin am männlichen Körper und Symp-tomen basiert. Insgesamt entsteht ein Gesundheitssystem, welches Frauen suboptimal behandelt. Und in einem Bereich wie der Geburtsmedizin, die größtenteils Frauen betrifft, wird dies umso deutlicher. Die Lösung sieht Roses Revolution in der konsequenten Umsetzung der Forderungen der WHO durch Politik und Gesundheitswesen, sowie die flächendeckende Einführung der „10 Schritte zur optimalen Versorgung rund um die Geburt” der IMBCI (Internationale Mutter-Baby-Geburtsinitiative). Auf diese 10 Schritte soll in der Praxis und in der Ausbildung Rücksicht genommen werden, um einen optimalen Mutter-Baby-Geburtsversorgung zu gewährleisten. Desweiteren empfiehlt die Organisation den Aufbau (bzw. Ausbau) einer Arbeitsgruppe der Bundesregierung, die sich aus Vertretern sämtlicher an Geburt beteiligter Personen zusammensetzt und die Reform der Geburtshilfe als Ziel hat. Beinhalten soll diese Reform unter anderem das Recht auf eine selbstbestimmte Geburt, die Förderung einer interventionsarmen Geburt und Einrichtungen in Kliniken, in denen Missstände anonym gemeldet werden können.
Tatsächlich glaube ich, es bedarf einer Reform des bisherigen Systems, aber diese setzt eine Diskussion voraus. Sie setzt voraus, dass Frauen über diese Geschehnisse und Erfahrungen nicht nur berichten können, sondern dass diese auch quantifiziert werden. Es ist schwierig, ein Problem zu lösen, dessen Ausmaß uns nicht einmal bewusst ist. Es war bei meiner Recherche fast unmöglich, empirische Daten zu finden, bis auf ein paar Umfragen und Erfahrungsberichte einzelner Frauen. Zwar häufen sich diese Berichte aufgrund sozialer Medien, aber es ist unheimlich schwierig, daraus einen Schluß zu ziehen und zu interpretieren. Ich glaube, allgemein muss sich unsere Einstellung zur Geburt und zum Mutter Werden und Mutter Sein ändern. „Hauptsache, das Baby ist gesund” reicht nicht, ganz im Gegenteil, sie wird Frauen zum Verhängnis. Diese Aussage impliziert nicht nur die Erwartung an werdende Mütter, bereit zu sein, sich sowohl psychisch als auch physisch für ein Kind zu opfern. Sie impliziert, dass sich Frauen, selbst wenn sie diese Opfer erbringen, sich nicht über schlechten Umgang beschweren dürfen, denn das Kind ist ja gesund. Was will man denn mehr?! Vielleicht keine traumatisierten Mütter. Und das ist nicht zu viel verlangt. Eine Geburt sollte nicht entweder ein gesundes Kind oder eine gesunde Mutter hervorbringen. Beides ist sehr wohl miteinander zu vereinbaren und sollte nicht nur angestrebt werden, sondern der Regelfall sein.
Ich habe selbst noch keine Kinder, jedoch denke ich als 26-jährige Frau natürlich darüber nach, eines Tages meine eigenen in die Welt zu setzen. Aber ich weiß auch, welche Risiken für MICH damit verbunden sind. Ich habe Angst. Und diese Ängste sind, wie man wohl merkt, nicht unbegründet. Wenn ich ehrlich bin, erlöschen sie auch nicht bei dem Gedanken an ein gesunden Baby, und „es lohnt sich alles, sobald du dein Kind in den Armen hältst” hilft mir auch nicht weiter. Lohnt es sich wirklich? Kann man von mir erwarten, derartige Opfer zu bringen? Und wenn ich mich weigere, bin ich dann eine schlechte Mutter? Sollte ich keine Kinder bekommen, wenn ich nicht bereit bin, meine Vagina zu opfern? Ist doch egal, was dort unten passiert, das Baby ist so süß und gesund. Nein!
Es ist mir eben nicht egal. Und von Frauen zu erwarten, Verstümmelung in Kauf zu nehmen, ist absurd. Natürlich lohnt es sich für Frauen, die bereits diese Erfahrungen machen mussten, was sonst? Was ist die Alternative? Dass diese Frauen uns sagen, es hätte sich nicht gelohnt? Allein schon zuzugeben, man vermisse seinen Körper von vor der Schwangerschaft, wird als Sünde behandelt. Wir müssen Ängste und Sorgen von Frauen und Müttern ernst nehmen. Ich möchte nicht, dass meine Vagina aufreißt oder aufgeschnitten wird. Ich möchte auch nicht, dass man mit mittelalterlichen Methoden das Baby aus mir rausprügelt. Auch für ein gesundes Baby nicht, und vor allem dann nicht, wenn diese Traumata vermieden werden können.
Foto: Karolina Grabowska (pexels)
https://www.swr.de/swr2/wissen/gewalt-in-der-geburtshilfe-swr2-wissen-2020-11-25-100.html
https://www.sterntv.de/hebammen-schlagen-alarm
https://www.gerechte-geburt.de/wissen/gewalt-in-der-geburtshilfe/
https://www.quarks.de/gesundheit/medizin/darum-ist-die-rueckenlage-die-unguenstigste-position/
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4052104/
https://www.n-tv.de/leben/Liebe_und_Familie/Wenn-die-Geburt-zum-Albtraum-wird-article21226203.html
https://www.swr.de/swr2/wissen/gewalt-in-der-geburtshilfe-swr2-wissen-2020-11-25-100.html