Von Latex, Komplimenten und belästigt werden
Von Latex, Komplimenten und belästigt werden

Von Latex, Komplimenten und belästigt werden

Berlin, 13.7. -18.7.2021

Wie habe ich meinen Urlaub außerhalb des Internets wahrgenommen? Absolut positiv. Im Museum wurde ich sowohl von Menschen, die sich die Ausstellung angeschaut haben, als auch vom Museumspersonal gefragt, ob sie ein Foto von mir machen dürfen. Einige haben mich sehr lange angeschaut, einfach weil sie wahrscheinlich noch nie oder sehr selten Latex gesehen haben oder weil sie mich schön / nicht schön fanden oder weil sie einfach nur neugierig waren. Habe ich das als Belästigung wahrgenommen? Nein. 

Es gab auch die Situation, als zwei ältere Damen im Museum auf mich zugekommen sind, mir Komplimente für mein Aussehen machten und fragten, was genau ich da trage. Wir haben uns dann kurz über Latex unterhalten und sie durften nach der Frage, ob sie mich mal anfassen dürfen, auch meinen Unterarm streicheln. 

Es gab einige Menschen, die ohne vorher zu fragen Fotos von mir gemacht haben. Das finde ich nicht in Ordnung, aber ich akzeptiere, dass ich auf einige Menschen einen ungewöhnlichen Eindruck gemacht habe und vielleicht dachten sogar einige, dass ich zu der Ausstellung gehöre. 

Als ich – in Latex gekleidet – in der U-Bahn von meinem Partner fotografiert wurde, gab es einige Menschen, die mich angestarrt haben, einige andere haben mich angelächelt, wiederum andere haben gefragt, ob sie ein Foto von mir machen dürfen und einige haben mich angesprochen und mir Komplimente gemacht. Die Mehrheit der Menschen hat mich nicht wahrgenommen oder es war ihnen egal, welche Kleidung ich trug. Unser Eindruck war bisher immer der, dass sich die Menschen freuen, etwas Ungewöhnliches zu sehen.

Habe ich auch Negatives erlebt? In Berlin, nein. Im Internet, ja. In Hamburg gab es einmal folgende Situation: Für ein Fotoshooting waren wir in der Innenstadt. Ich hatte einen Latex-Catsuit und hohe Pleaser Schuhe an. Als eine Frau mich entdeckte, macht sie ihre Augen riesig, guckte grimmig und ging weiter; so nach dem Motto „OMG. Schnell weg hier.“

Was du nicht willst und fünf Mal „w“

Ich versuche immer nach dem Grundsatz „Was du nicht willst, das andere dir antun, das tue auch anderen nicht an.“ zu leben und einen gesunden Menschenverstand einzusetzen. Möchte ich von fremden Menschen bedrängt werden? Nein. Würde ich mich über den Spruch „Geiler Arsch!“ von einer fremden Person freuen? Nein. Würde ich mich von einem oberkörperfreien Mann in der Öffentlichkeit belästigt fühlen? Ja. Und dann? Na, dann schaue ich weg, gehe weg oder komme damit klar, dass ich einer unangenehmen Situation ausgesetzt bin. Solange dieser Mensch mir nicht zu nah kommt, mich verfolgt oder blöde Sprüche und Gesten macht, darf ich mich belästigt fühlen, ohne dass ich belästigt werde. 

Möchte ich von fremden Menschen einfach angefasst werden? NEIN. Diese neue Regel vom „1,5m Abstand halten“ empfinde ich als Wohltat für meine Seele. Kein Gedränge, kein unnötiges Berühren oder Anfassen. Ist es ein Kompliment, wenn mir eine fremde Person von der anderen Straßenseite zuruft? Tendenziell eher nicht. Möchte ich, dass mensch mich versucht zu überreden, wenn ich auf eine Frage mit Nein antworte? Nein. 

Eine Definition für Menschen zu schreiben, die sich schwer mit dem Unterschied zwischen Komplimenten und Übergriffigkeit tun, finde ich nicht so einfach. 

Ich orientiere mich an den W-Fragen: Wer? Was? Wie? Wo? Wann? 
Wer sagt was, in welchem Ton und in was für einer Situation zu mir?

Wer?Ein fremder Mann
Was?fragt mich nach meiner Nummer
Wie?höflich und mit einem körperlichen Abstand zu mir
Wo?in der U-Bahn
Wann?nachts, um halb zwei Uhr morgens.
Wäre das „wie“ nicht freundlich, wäre dieses Verhalten meiner Meinung nach übergriffig gewesen. (Ob aus freundlichem Verhalten dann noch übergriffiges oder beleidigendes Verhalten wird, kommt dann auf die Reaktion der Reaktion an.)

Diese Überlegung können wir ja mal auf die „Eis essen in Latex“(4)-Situation anwenden:

Wer?Eine fremde Frau
Was?isst ein Eis
Wie?in Latex gekleidet (während ein Mensch von ihr Fotos macht)
Wo?in einer Fußgänger-Passage
Wann?um die Mittagszeit.

Um einen Vergleich zu haben, zwei Beispiele für ein übergriffiges Verhalten.

Wer?Ein fremder Mann
Wie?schreit
Wann?nachts / tagsüber / morgens
Was?„Geile Schnitte!“
Wo?von der anderen Straßenseite aus.

Wer?Meine Partnerin
Was?bettelt
Wie?unnachgiebig nach Sex
Wann?nachts
Wo?in unserem Bett.

Die Frage: „Tu‘ ich etwas, was ein Mensch nicht möchte?“ begleitet mich eigentlich immer. Also: Verletzte ich Menschen (psychisch, physisch)? Fühlt sich jemensch meinetwegen unwohl und kann der Mensch sich dieser Situation nicht entziehen? Natürlich kann ich es nicht allen Recht machen, also gehe ich das Risiko ein, wenn ich in Latex auf die Straße gehe, dass sich Menschen von mir belästigt fühlen. Hier kommt dann auch wieder die Frage nach dem Unterschied zwischen sich-belästigt-fühlen und belästigt-werden und ganz wichtig: zwinge ich Menschen zu etwas, was sie nicht selber in der Hand haben? Ich laufe keinem hinterher, stelle mich nicht dicht an, fasse Menschen nicht an und haue keine dummen Sprüche raus. Ich bin einfach kurz da und gehe wieder; in dem Beispiel wo ich in Latex durch die Innenstadt laufe.

Und um es auch mal auf den Punkt zu bringen: letzten Endes habe ich im reellen Leben nur positive Erfahrungen mit Latex in der Öffentlichkeit gemacht.


Quellen: (1) Bremer CSD (2) Wikipedia (3) Ich sehe was ich kenne (4) Eis essen in der Öffentlichkeit

3 Kommentare

  1. Mey

    Als Allergiker:in nervt es schon ein bisschen, wenn ich nun in der Bahn auch noch im Hinterkopf behalten muss, dass eventuell Leute in ihrer Gummi-Kluft auf dem Platz saßen auf den ich mich setzte.

    1. T

      Ich verstehe zwar dein Problem, aber Latex/Gummi sind auch längst in Kleidungsstücken enthalten, die als „mainstream“ oder alltagstauglich bezeichnet werden (zb in Leggings) – insofern hat ein Latexoutfit da nur geringe Auswirkungen. Genauso kannst du nicht wissen, ob eine Pflegefachkraft, die den ganzen Tag Latexhandschuhe anhatte, gerade den Haltegriff 20 Minuten gehalten hat. Die Frage ist dann, dürfen Menschen, die Latexhandschuhe zum Schutz tragen, nicht mehr U-Bahn fahren? Oder nur dort, wo du nicht unterwegs bist?

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