Plötzlich dröhnt der Radiomoderator „…wir wünschen der Band trotzdem, dass sie die Krise meistert und an all den Vorwürfen nichts dran ist!“ Natürlich geht es um Rammstein und natürlich ist es ein erneuter Schlag ins Gesicht. Ich halte beim Aufräumen inne, schleudere ein, zwei Kleidungsstücke durch den Raum, dann schalte ich das Radio ab und mache weiter. Nur bin ich jetzt mit meinen Gedanken über diese scheiß Unschuldsvermutung und all meiner Wut alleine.
Unsere Kultur ist gut erforscht: Statistisch sind falsche Vorwürfe zu sexualisierter Gewalt eine große Ausnahme. Täter sind zu großen Teilen Cis-männlich. Das heißt nicht, alle Männer sind Täter, aber eine männliche Sozialisation begünstigt, zum Täter zu werden. Die Dunkelziffer bei sexualisierter Gewalt ist extrem hoch – viele Betroffene schweigen also eher, als über erlebte Gewalt zu sprechen. Obwohl wir all das wissen und belegen können, obwohl die Zahlen so unglaublich eindeutig sind, gibt es jedes Mal die gleiche Diskussion.
Auch jetzt wieder: Wie glaubwürdig sind die Frauen, die Till Lindemann sexualisierte Gewalt vorwerfen? Es wird irgendeine absurde Verschwörungstheorie darum gesponnen, warum dutzende Frauen ihm Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt vorwerfen, statt den Betroffenen zu glauben. Und all das nach #Metoo, nach #Aufschrei, nach Epsteins Virgin Island, nach Weinsteins Verurteilung. Wir stehen gesellschaftlich noch immer am selben Punkt. So tief ist Rapeculture wirklich gesellschaftlich in uns allen verankert. Nicht die Ehrlichkeit und Integrität des Mannes wird hinterfragt, sondern die der Frau.
Die Unschuldsvermutung, sie gilt dem Täter.
Die Opfer werden dagegen seziert wie Schuldige.
Betroffenen zu glauben bedeutet nicht, dass man gegen polizeiliche Ermittlungen ist. Es bedeutet auch nicht, dass Männer ohne Beweise verurteilt werden sollen. Es bedeutet, sich nicht der Möglichkeit zu verschließen, dass das alles so geschehen sein kann, wie Frauen berichten. Es bedeutet Aufklärung zu unterstützen, sodass es zu polizeilichen Untersuchungen sowie unternehmens- und industrieinternen Veränderungen kommen kann. Es bedeutet, den Ruf von Männern nicht über Statistik, Wissenschaft und über die Sicherheit von Frauen zu stellen. Betroffenen zu glauben ist wirklich das Mindeste, was wir im Zweifel tun sollten, wenn es um sexualisierte Gewalt geht.
Außerdem bedeutet, Betroffenen zu glauben, auch sich nicht zum Richter zu erheben, wenn diese öffentlich ihre Erfahrungen teilen. Es heißt, sich nicht an unangebrachten Worten wie „Hetze“ oder „Hexenjagd“ zu bedienen. Auch wenn ich die Ironie von letzterem unschlagbar finde. Es bedeutet nicht zu fragen, ob sie Aufmerksamkeit wollen. Sondern sich darüber bewusst zu sein, dass das öffentliche Teilen von erlebten Erfahrungen anstrengend und nervenaufreibend ist, aber hilfreichen öffentlichen Druck erzeugt. Unser Rechtssystem ist ein Work-in-Progress, was Sexualstrafrecht angeht; auch das wissen wir bereits. Gesetze verändern sich nur langsam. Strafprozesse gehen aus Mangel an Beweisen in wenigen Fällen zu Gunsten der Geschädigten aus. Ermittlungen werden in Fällen von sexualisierter Gewalt oft eingestellt oder gar nicht erst aufgenommen. Im Fall Lindemann war das erste bekannte Opfer bei der litauischen Polizei, wo man es nicht ernst nahm. Diese öffentliche Aufmerksamkeit, dieser Druck ist eine der wenigen Möglichkeiten, die Betroffenen bleibt, um Polizei, Unternehmen und Clubs zum Handeln zu bewegen und damit Sensibilisierung der Gesellschaft, Untersuchungen in Unternehmen und polizeiliche Ermittlungen überhaupt möglich zu machen.
In unserer Stadt gibt es eine Aktion, um das Konzert von Till Lindemann abzusagen. Es soll keine Bühne für sexualisierte Gewalt geben. Menschen in meinem Umfeld finden das „krass“. Sie verstehen nicht: Hier wird nicht zu Hass, Gewalt oder eben „Hetze“ aufgerufen, sondern dazu, sich eine Meinung zu bilden und aktiv zu werden. Es geht darum, sich klar zu positionieren, gesellschaftliche Grenzen aufzuzeigen und sich mit den Opfern zu solidarisieren. Es heißt nicht „Lindemann, du bist schuldig“, sondern eben: „Jetzt gerade glaube ich den Opfern und unterstütze sie, statt faul auf meiner Couch sitzenzubleiben“. Sollte sich herausstellen, dass dieser Mann unschuldig ist, was ich bezweifle, kaufe ich bestimmt ganz viel Merch. Aber jetzt gerade, da muss dieser Mensch erleben, gewisse Taten haben gesellschaftliche Konsequenzen.
Mir wird oft gesagt, ich solle mir ‚ein dickeres Fell zulegen‘. Das bedeutet wohl auch die täglichen Radioansagen mit ihren Implikationen ‚einfach‘ zu ignorieren oder die andauernden Kommentare von Freunden und Bekannten. Aber warum soll ich erlerntes Wissen verdrängen? Warum soll ich Pseudoargumente und Implikationen unkommentiert stehen lassen? Wieder ist es an mir ‚damit umzugehen‘ und sich zu verändern, nicht an der Gesellschaft. Wie sollen Betroffene, die unter Sexismus und sexualisierter Gewalt leiden, heilen, wenn die Welt nicht heilt?
Im Internet steht vor Texten oder Bildern, die sexualisierte Gewalt darstellen, manchmal eine Triggerwarnung. Bilder von Missbrauch zu sehen, kann schwere Retraumatisierungen verursachen. Aber wer setzt eine Triggerwarnung vor die Gesellschaft?
schrieb Margarete Stokowski 2013 dazu in der TAZ
Menschen, die sich nicht aktiv mit sexualisierter Gewalt auseinandersetzen, bemerken nicht, wenn sie sich mit diesen Pseudoargumenten, Implikationen und Vergewaltigungsmythen positionieren und damit unsere Rapeculture wieder und wieder reproduzieren. Sie sagen, wir seien uns alle einig, sexualisierte Gewalt sei falsch und eine ‚neutrale Haltung im Fall Lindemann sollte doch okay sein‘. Dabei verstehen sie nicht: Das reicht nicht!
‚Neutralität’ verändert unsere Gesellschaft nicht. ‚Neutralität‘ signalisiert Betroffenen, die sich zwangsläufig mit unreflektierten Bemerkungen konfrontiert sehen, dass es dir keine Energie wert ist, sie wirklich zu schützen, auch vor dir. ‚Neutralität‘ unterstütz die Stärkeren. Sie ist keine Positionierung gegen sexualisierte Gewalt, wenn du trotzdem Vergewaltigungsmythen und Pseudoargumente reproduzierst. Denn die Betroffenen, die sehen ganz genau, wo du in deinem Reflektions- und Entwicklungsprozess stehst. Und du stehst dann leider nicht hinter ihnen.
Deine Unschuldsvermutung, diese Verteidigung mit all ihren miesen Implikationen, wird ein Till Lindemann nicht hören. Aber der Mensch in deinem Umfeld, der Opfer von sexualisierter Gewalt geworden ist, weiß dann: Du bleibst lieber auf der Couch sitzen statt dir eine Meinung zu bilden. Du bist kein sicherer Mensch.
Foto von Mika Baumeister auf Unsplash