In Memoriam
I
Dunkel und saftig glänzend steht der Schokokuchen vor mir. Er würde an normalen Tagen meine ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Aber heute ist es anders. Du irritierst mich, weil du so lange nur über deinen Job redest, und zwar in Fachbegriffen. Noch viel mehr allerdings lenkt mich der Luftzug zwischen meinen Beinen ab.
Ich bin froh, dass der Übergang zwischen den seidenen Strümpfen und meinem schwarzen Minirock unter dem kleinen, kippeligen Tisch versteckt ist. Wenn ich nicht aufpasse, wird die Spitze hervorlugen. Vielleicht merkt dann jemand, dass ich nichts drunter trage?
Ich rutsche ein wenig auf meinem Rock hin und her, um sicherzugehen, dass meine nackten Vulvalippen nicht mit der Bank in Berührung kommen. Sein weicher Stoff war beim Hinsetzen hochgerutscht und bildet jetzt kleine Fältchen auf Höhe meiner Leisten.
Der Inhaber mit dem reizenden französischen Akzent kommt vorbei und fragt, ob wir noch etwas trinken möchten. Ich lehne ab. Er schaut ein wenig grimmig und ist heute ziemlich still. Das letzte Mal hat er noch überschwänglich mit den Augen gelacht und mir Komplimente gemacht. Vielleicht erkennt er, dass das hier ein Date ist, aber begreift nicht, dass ich den Mann, mit dem ich letztes Mal hier war, damit nicht betrüge. Das verstärkt mein ängstliches Unbehagen.
Wir bleiben nicht lang, aber weit kommen wir auch nicht: Ein paar Meter neben dem Café fangen wir an zu knutschen. Ich muss mich strecken, um deine Lippen zu erreichen. Deine Hand fährt über die Einbuchtung meiner Taille und weiter nach unten über die Rundung meines Pos. Spätestens jetzt ist dir klar, dass ich deine fantasievolle Agenda in die Tat umgesetzt habe.
Unter deinen kräftigen schwarzen Brauen werden deine Augen zu kleinen Schlitzen, wie immer, wenn du voller Freude selig grinst. Später wirst du mir sagen, du hättest nicht damit gerechnet, dass mein Rock so verdammt kurz sein wird. Und ehrlich gesagt hatte ich auch nicht damit gerechnet – mit der Auswahl meines Outfits habe ich mich selbst überrascht. Ich mag es eigentlich nicht sonderlich gern, keine Wäsche zu tragen. Noch vor wenigen Tagen hätte ich schwören können, dass ich nie und nimmer mit einem so kurzen Rock und ohne Höschen in die Öffentlichkeit gehen würde.
Und das ist es, was jede Begegnung so besonders macht: Wenn zwei Individuen zusammentreffen, entsteht etwas Neues, Einzigartiges. Deine erotischen Geschichten – teils Fantasie, teils Erzählungen vergangener Wagnisse – haben mich neugierig gemacht, mich gereizt und erregt.
Und deshalb stehe ich jetzt hier.
Wir schauen uns um, unruhig. Gibt es einen Platz, an dem man vor fremden Augen geschützt ist? Nein.
Wir laufen unschlüssig von einer Straßenseite zur anderen, schleichen schließlich auf den gepflasterten Gehwegen um die Martinskirche herum.
Nichts. Zwischendurch küssen wir uns, ich rieche deinen Geruch, spüre deine Wärme. Wir atmen schwer und schauen uns angespannt um.
Ich habe Angst. Nicht auf die gute Art, sondern auf die nervöse, unangenehme Weise. Und gleichzeitig steigt Erregung in mir auf, von meinem Schambein hoch bis in die Brust. In säuselndem Tonfall und doch mit fester, klarer Stimme trägt sie mir ihre gierigen Wünsche vor. Meine Angst hält dagegen, zischt Warnungen und wiederholt, ein wenig zu panisch, wieder und wieder: Das kannst du nicht machen! Nun, dass das kein sonderlich kluges Argument ist, müsste sie eigentlich wissen. Meine Begierde klingt zwar nicht gerade vernünftiger, aber ihre wilde Kraft und ihre Unbeirrbarkeit machen sie nahezu unwiderstehlich.
Kein Versteck. Aber immerhin ein Mäuerchen, etwas mehr als hüfthoch, ein Baum dahinter, dürr, fast ohne Laub. Dass das zu dürftig ist, um als Versteck zu gelten, ignorieren wir mangels Alternativen. Wir lehnen uns an, vergessen die Stadt um uns, vergessen die Stadt hinter unseren Küssen. Bis ich deine Hände vor Erregung zittern spüre.
Das ist es, was ich wollte. Ich schließe meine Augen, spüre durch die Jeans deine Erektion an meinem Bauch. Meine Hände fahren über dein Shirt, unter dem ich deine Brust spüre; ich küsse deinen Hals und deinen Kehlkopf. Ich schaue nach oben – dein typisches Grinsen, selig, sanft, zwischen einem schmalen Mund und schmalen Augen. Deine Hände haben ihre Wanderung beendet und sind angekommen: Wie nass ich bin! Das ist ein Kompliment, mein Lieber, denke ich.
Du scheinst das zu wissen, denn du lachst leise auf und dein Grinsen wird so breit, dass ich deine Zähne sehen kann.
Wir flüstern einander ein paar Worte ins Ohr, schauen uns um, wieder nervös. Wie weit können wir gehen? Ich öffne deinen Gürtel. Da hören wir ein Geräusch. Ich erschrecke. Unsere Münder und Hände werden ruckartig still. Wir wagen es kaum zu atmen, pressen die Lippen aneinander, schauen uns an.
Eine Frau kommt vorbei, sie trägt eine Tüte. Die Entfernung zu uns ist groß genug, um einen Anflug Erleichterung zu spüren, aber zu klein, um wirklich beruhigt zu sein. Sie schaut kurz zu uns rüber. Ob sie etwas bemerkt hat? Sie wird doch jetzt nicht herkommen und uns ermahnen, höre ich meine Angst mit dumpfer Stimme raunen. Da ist meine Begierde plötzlich ganz still.
Nichts passiert.
Weiter.
Meine Hand gräbt sich mühsam durch mehrere Schichten Stoff: Dein Pulli lässt sich noch leicht beiseiteschieben, doch darunter sitzt dein Shirt fest in der Hose. Ich öffne vorsichtig deinen Gürtel und mache mich konzentriert am Knopf deiner Jeans zu schaffen. Der ist hartnäckig, gibt aber schließlich seinen Widerstand auf. Meine Finger fahren langsam in deinen Hosenbund und schieben dein langes Shirt, das immer noch viel zu fest eingeklemmt ist, Stück für Stück nach oben. Jetzt müssen sie nur noch den Weg in deine Shorts finden. Ich spüre schon deine warme Haut und arbeite mich weiter vor, bis ich endlich deinen harten Schwanz berühre, ganz klebrig von den Lusttropfen der vergangenen Stunde. Wie gern würde ich ihn in den Mund nehmen.
Ich atme tief. Schließe deine Hose. Nicht hier, nicht heute.
„Ich dachte, dass wir nur ein bisschen rumknutschen, dass der Plot sich etwa so viel weiterentwickelt wie Matrix Reloaded,“ schriebst du mir später. Ich habe keine Ahnung von Matrix Reloaded, aber jedenfalls scheinst du dich geirrt zu haben.
Seit diesem Tag grinse ich jedes Mal, wenn ich an der Martinskirche vorbeifahre. Jedes Mal.
II
Einige Wochen, oder vielleicht auch einige Monate später sitzen wir auf einer Wiese beim Picknick.
War es bei diesem Treffen oder bei einem anderen? Du schaust mich an, kommst ganz nah. Ich suche deinen Blick, aber deine Augen schauen an meinen vorbei. Du erklärst mir, dass du meinen Ohrring drehen möchtest, damit sein Dreieck richtig auf das Dreieck des Ohrrings obendrüber ausgerichtet ist. Ich verstehe das besser als man meinen mag, aber ich schüttele trotzdem heimlich den Kopf und denke: Du Spinner, ich mag dich!
In den folgenden Monaten hast du noch oft ausführlich in zu vielen Fachbegriffen über deinen Job gesprochen, und irgendwann haben wir gemeinsam Spargelrisotto gekocht. Dabei lernte ich deine chaotische, etwas zu schmutzige Wohnung kennen und mit ihr deine kecke Exfreundin. Einige Wochen später sind wir zusammen durch den Tierpark spaziert, ein andermal waren wir bei Regenwetter auf einem Flohmarkt. Du hast mich bei einem Spaziergang am Fluss an deinen sadistischen Fantasien teilhaben lassen und mit mir in deiner rationalen Art über Emotionen sinniert.
Bei all dem hat sich immer deine Klugheit und deine logische, deine sehr logische, sachliche Ader gezeigt. Auch deine ruhige, gefasste Art war immer wieder präsent, ohne dass dich das davon abgehalten hätte, lebendig zu sein. Und irgendwann, ganz am Ende mal, waren wir gemeinsam bei politischen Vorträgen zur Energiewende.
In all der Zeit hast du mir noch zahlreiche erotische Geschichten erzählt und dir liebend gern von meinen Abenteuern berichten lassen. Du hast angedeutet, dass du diese Geschichten gerne anonym in die Welt tragen würdest, aber sich das nie richtig ergeben hat.
Und weil du solche kleinen erotischen Texte so sehr mochtest, werde ich jetzt noch die Geschichte von dem Abend aufschreiben, an dem du mir deinen Brieföffner mitgebracht hast.
III
Ein paar Monate hatten wir keinen Kontakt, nachdem ich dir gesagt hatte, dass ich nicht mehr mit dir schlafen will. Wir zweifelten, ob sich daran eine Freundschaft anschließen lässt. Aber ich dachte immer wieder an dich, und später sagtest du mir, du dachtest auch an mich. Irgendwann habe ich dir wieder geschrieben. Wir trafen uns wieder, wir verstanden uns gut. Und, siehe da, ohne mein Zutun – vielleicht mit deinem Zutun, wer weiß – entstand eine Fantasie in meinem Kopf.
Wir sprachen darüber, wägten ab, und du zögertest nicht lang.
An diesem speziellen Abend habe ich mir Zeit gelassen. Fingerfood vorbereitet. Alles angerichtet: Augenbinden, Handschellen, Kerzenwachs. Ich habe das heiße Wasser beim Duschen genossen und mir langsam die Strümpfe angezogen, über denen ich ein halbdurchsichtiges Kleid tragen würde.
Und dann habe ich gewartet. Das war Teil des Spiels – und die einzige Art, auf die ich über deine chronische Unpünktlichkeit hinwegsehen und dich trotzdem noch begehren konnte.
Während des Wartens habe ich schon meine ledernen Overkneestiefel mit den dünnen, hohen Absätzen getragen. Es war abgemacht, dass du mir nur eine kurze Nachricht schreibst, wenn du da bist, damit ich dir aufmachen und mich danach schnell richtig platzieren kann: Ich werde dich mit verbundenen Augen empfangen und erst dann sprechen, wenn du es erlaubst.
Mein Herz klopft schon beim Gedanken daran. Ob alles gut geht?
Gleich werde ich rührungslos und aufrecht auf einem Stuhl sitzen, das Seidentuch über den Augen, die Lippen vor Aufregung leicht geöffnet.
Wie besprochen blinkt eine kurze Nachricht auf, die mir sagt, dass du gleich da bist. Ich öffne die Tür nur einen kleinen Spalt und gehe zurück ins Zimmer. Mit feuchten Händen verbinde ich mir die Augen und setze mich auf den Stuhl in der Mitte des Raums.
Ich höre Stimmen. Wie irritierend. Wer ist da im Flur? Hast du einen Nachbarn getroffen? Oder sind es die Nachbarn aus meinem Stockwerk? Nicht, dass sie sich über die geöffnete Tür wundern und reinschauen…
Die Tür öffnet sich kurz und fällt dann schnell mit einem lauten Klacken wieder zu. Alles in Ordnung?
Geräusche: Ungeschicktes Abstellen einer Tüte, Rascheln, Schuhe auf dem Boden. Erleichtert atme ich durch. Als ich deinen Geruch rieche und höre, wie du ein Lob zum gedeckten Tisch murmelst, lächle ich.
Ich weiß, dass du das extra machst, wie du dir langsam Wasser einschenkst und am Essen kaust, als sei ich nicht da. Amüsiert höre ich deine Geräusche, fast ein bisschen enttäuscht darüber, dass ich mich kein bisschen submissiv fühle.
Trotzdem halte ich mich still und aufrecht. Ich spüre den Druck, der durch die hohen Absätze der Overknees auf meinen Zehen lastet. Meine Beine sind leicht gespreizt, die Knie sind warm vom Leder der Stiefel.
Meine nackten Schultern dagegen sind kühl. In dem ärmellosen Kleid kommen meine Schlüsselbeine gut zur Geltung, ich mag die Linien, die sie bilden. Du kannst sicherlich meine Nippel sehen, durch den halbdurchsichtigen seidenen Stoff. Schaust du mich an?
Ich höre nichts mehr von dir. Weil ich nichts sehe, spüre ich umso stärker: Das Kribbeln in meiner Zungenspitze, wenn sie meinen Gaumen berührt. Die Kühle, die entsteht, wenn die Luft beim Einatmen meine Lippen streift. Die pulsierende Kraft meines Herzschlags. Jeder Schlag ist wie ein kleiner Ruck, der meine ganze Brust erfasst. Das Wummern wird schneller.
Waren das Schritte? Bist du neben mir?
Ich will dich berühren!
Natürlich bleibe ich sitzen, weil es sich nun einmal so gehört. Aber ich atme tief, recke mein Kinn, richte mich noch mehr auf, hinein in den stillen Raum.
Da höre ich dich. Du bist da. Nur ein Windzug, ein Hauch, Anflug einer Berührung. Du stehst neben mir. Rechts. Ich kann dich spüren, obwohl du mich nicht berührst.
Du fasst meine Hände und bindest sie hinter dem Rücken fest, aber ungeschickt, viel zu locker.
Ach, denke ich, süß von dir. Ich lasse dich gewähren, aber als du mir nah kommst, und ich dich endlich, endlich berühren möchte, entziehe ich meine Hände der Binde.
Du greifst meine Arme, sanft und doch fest und entschlossen. Deine andere Hand streift mir übers Gesicht, drückt es zur Seite, drückt es weg von dir. Ich kneife meinen Mund zusammen in einer Mischung aus Wut über die Demütigung und lustvollem Hunger. Lasse den Kopf seitlich nach unten geneigt, lasse dich gewähren. Diesmal bindest du fester.
Bitte, berühr‘ mich, schreit meine Brust, doch ich sage kein Wort. Nicht einmal ein Flüstern kommt über meine Lippen. Du umkreist mich.
Da, endlich, deine Lippen auf meinen. – Und weg. Ich stöhne.
Etwas Kaltes, Spitzes an meinem Nacken, es fährt langsam mein Schlüsselbein entlang.
Deine Hände auf der Innenseite meiner Schenkel, warmer Druck, Streicheln – dann ein Wechsel, das Kalte, spitz, hart, meine Beine zucken zusammen. Du drückst sie auseinander.
Mein Kleid rutscht hoch und entblößt meine Vulvalippen, angeschwollen vor Erregung.
Still, es ist wieder still. Keine Berührungen mehr.
Ich kann warten, denke ich, irgendwann musst du mich schon erlösen, und recke das Kinn. Eine Weile warte ich, unbewegt. Doch weil ich weiß, wie sehr dich meine Begierde erfreut und wie sehr dich mein Bitten befriedigt, halte ich das nicht sehr lang durch: Obwohl ich kein Wort sage, fleht mein Körper dich an. Bis du wieder näher kommst, bis ich deine Erektion endlich in meinem Mund spüre.
Noch viele Male wirst du deine Hand über mein Gesicht gleiten lassen, langsam, und ich weiß, etwas tief in dir hätte mich gerne richtig geohrfeigt. Doch wir waren noch nicht so weit, wir beide nicht.
Deine Hand, wie sie über meinem Gesicht lag, meine Augen verdeckte, mich verdeckte, meine Identität, mein Sein, wie sie mich wegdrückte und mich gleichzeitig anzog. Mein Frust, als ich mich selbst berühren musste und es nicht schaffte, mich in der vorgegebenen Zeit zum Orgasmus zu bringen. Und dann, irgendwann, endlich, unsere Körper vereint. Unsere Haut, nah, einander verbunden.
Dein Aufbruch: Wir erwarteten ein Gewitter, und du warst mit dem Fahrrad da.
Du hast deinen Brieföffner vergessen. Das war es, was so kalt und spitz über meine Haut strich. Es war noch ein Stück Klebestreifen dran. Ach du, dachte ich, schüttelte den Kopf und lächelte dabei.
IV
Das ist schon lange her. Wir haben uns nicht viel gesehen in letzter Zeit.
Jetzt bist du Asche.
Alle wussten, es würde so kommen. Und doch stehen wir jetzt hier – nein: wir sitzen, eine hier und die andere dort und der nächste woanders, weil ja Pandemie ist – und wissen nicht, was tun. Schmerz und Trauer breiten sich aus wie der Frost im schneebedeckten Boden.
Du und ich: Schwankend zwischen Freundschaft, Bekanntschaft, Freundschaft Plus. Man kann wohl sagen, wir waren nur gute Bekannte, nicht mehr. Ich habe nicht erwartet, dass es so schwer ist, zu akzeptieren, dass du nicht mehr existierst.
Doch ich werde weiterhin jedes Mal lächeln, wenn ich an der Martinskirche vorbeifahre. Jedes Mal. Und wie jedes Mal werde ich an dein Grinsen und deine Geschichten denken. Und ich werde es noch viele Male tun, viele, viele Jahre. Jetzt erst recht, denn mit jedem Grinsen wirkst du ins Hier und Jetzt.
Das ist es, was bleibt: Spuren.
Es bleiben Spuren in den Herzen all jener, die weiterleben. Ganz unterschiedliche Spuren, jeder trägt seine eigenen. Erinnerungen, Rituale, Prägungen, Ideen. Sie sind alle noch hier, beweglich, lebendig.
Im Gegensatz zu dir. Du bist jetzt eine Statue. Eine Statue, jahrhundertelang sichtbar, aber unbeweglich, immergleich, kalt.
Als du mir sagtest, dass du sterben wirst, hast du gesagt, ich solle den Brieföffner behalten. Als Andenken. „Ich würde ihn dir lieber in zwanzig Jahren zurückgeben, mit einem schlechten Gewissen, weil ich es so lange vergessen hab’“, antwortete ich. Und wir waren beide sehr traurig.
Ich weiß nicht mehr genau, was ich dir dann noch schrieb, aber ich hoffe, du hast meine Wertschätzung und meine Zuneigung herauslesen können. Ich weiß noch, dass ich dir erzählte, was ich an dir so typisch-du fand. Kleine, individuelle Geschichten. Ich glaube, du hast verstanden, dass die Wirkung dieser Dinge hierbleibt, auch wenn du als Ganzes nicht mehr hier bist. So überdauert wenigstens ein kleiner Teil von dir.
Und, ist es nicht ein schöner Schachzug des Lebens, dass es nicht einmal unbedingt die großen Taten sind, die am lebendigsten in Erinnerung bleiben, sondern die kleinen charakteristischen Eigenheiten?
Vielleicht ist dein Tod so schockierend, weil du so jung warst und die Umstände so tragisch sind. Vielleicht auch, weil gerade du für mich Lebendigkeit bedeutet hast.
Es tut mir so leid. Für dich und für deine Liebsten. Und ich bereue, dass ich dich nicht doch noch einmal mehr gefragt habe, ob wir uns nochmal sehen, weil ich dachte, du willst die knapp werdende Zeit deinem engsten Kreis widmen. War das ein Akt der Rücksicht, oder eine Fehleinschätzung? Ich wünschte so sehr, ich hätte dir auch zuletzt nochmal ein Geschenk gemacht. Am liebsten möchte ich dir laut nachrufen: Ich hab‘ dich gern gehabt.
Doch ich bin dabei, meinen Frieden damit zu machen. Schon aus früherer Erfahrung weiß ich: Der Tod lässt einem ohnehin keine andere Wahl. Sein Eintreten ist unerbittlich, ohne dass er dabei bösartig wäre. Und diese sachliche, kompromisslose Endgültigkeit ist für mich durchaus hilfreich, wenn es darum geht, ihn zu akzeptieren.
Dein goldener Brieföffner steht jetzt in meinem Holzregal, und vielleicht wird er in zwanzig Jahren noch dort stehen. Aber der Klebstreifen, der musste weg.
Foto: Adam Neumann (unsplash)