Grenzunterschreitung
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Grenzunterschreitung

Mit Beginn der Coronapandemie wurde unsere Vorstellung von Normalität, die wir alle für unerschütterlich gehalten hatten, plötzlich in Frage gestellt. Wir hatten gar keine Wahl: Die Dinge änderten sich. Die neue Situation stellte auch zwischenmenschliche Kategorien auf den Kopf, und wir mussten neue Gebote für den Umgang miteinander formulieren.

Erstes Gebot: Du sollst deine Kontakte reduzieren.
Zweites Gebot: Halte Abstand zu anderen Menschen.

Abstand zu anderen Menschen – was auf den ersten Blick wie eine Kleinigkeit erscheint, ist auf den zweiten Blick ein massiver Einschnitt. Schließlich ist zwischenmenschlicher Kontakt eins unserer Grundbedürfnisse als soziale Wesen. Im digitalen Zeitalter haben wir glücklicherweise viele Möglichkeiten, auch auf Distanz miteinander in Kontakt zu treten. Trotzdem bleibt körperliche Nähe wichtig; sie ist einfach nicht ersetzbar. Doch obwohl wir so sehr auf sie angewiesen sind, entpuppt sie sich in einer Pandemie plötzlich als risikoreich und bedrohlich. Das wirkt sich auf fast alle Lebensbereiche aus, und so werden all die sinnvollen Appelle, sich voneinander fernzuhalten, allgegenwärtig.

Obwohl ich diese Situation immer noch irritierend finde, bin ich doch auch fasziniert: Wie schnell sich mein Hirn umstellte, fand ich beeindruckend.

Jemandem aus dem Weg zu gehen, einen Bogen um jemanden zu machen oder einen Schritt zurück zu treten – was früher an eine Unverschämtheit grenzte, ist jetzt ein Zeichen von Höflichkeit und Respekt. Ich habe sehr schnell verinnerlicht, dass es sich nun so gehört. Zumindest, wenn man seinen Mitmenschen rücksichtsvoll begegnen will. Also wechsle ich die Straßenseite, wenn mir im Wohngebiet jemand entgegen kommt. Ich trete einen Schritt zurück, wenn ich an der Eisdiele anstehe und so unachtsam war, der Person vor mir nah zu kommen. Schließlich möchte ich verantwortungsvoll mit anderen Menschen umgehen.

Ich rege mich auf über Leute, deren körperliche Präsenz ich an der Kasse in meinem Nacken spüren kann; über Leute, die beim Waldspaziergang keinen Platz machen, damit man mit Abstand aneinander vorbei gehen kann. Solche egoistischen Rüpel! Ich gebe zu, dass mein Ärger womöglich von Überspanntheit zeugt. Und eigentlich finde ich auch, dass wir gerade alle ein wenig zu viel übereinander schimpfen, nur um unserem Pandemiefrust irgendeine Richtung zu geben. Darum zurück zu meiner Faszination: Ist es nicht wunderbar, wie sehr sich unser Gehirn anpassen kann?

Wie spannend es ist, dass sich soziale Normen so rasend schnell wandeln und sich auch unser kollektives Verhalten an die neuen Gegebenheiten anpasst! Wir begreifen, obwohl wir dieses Virus nicht einmal sehen können, dass Abstand jetzt ein Zeichen von Fürsorge und Freundlichkeit ist. Dass wir in dieser Situation den Umgang miteinander noch austarieren müssen und manchmal verunsichert oder verängstigt sind, scheint mir völlig normal. Doch unser Streben danach, anderen Menschen rücksichtsvoll und wertschätzend begegnen zu wollen, bleibt. Und es treibt anscheinend sehr viele von uns auch in dieser Situation immer noch an. Irgendwie macht mir das Hoffnung.

Beim Dating ist der neue Umgang ganz besonders seltsam. Um Kontakte zu reduzieren, wird ohnehin jedes Treffen einzeln abgewogen. Seit Beginn der Pandemie habe ich mich, wie die meisten anderen Leute auch, nur noch mit wenigen Menschen getroffen. Dabei wurde jedes Mal überlegt, wie nah man sich kommen kann und welche Aktivitäten noch verantwortungsvoll sind. Dates, bei denen ich jemand neues kennenlerne, fielen seit dem letzten Sommer komplett weg.

Einmal war ich mit einer attraktiven Frau spazieren, die ich noch nicht sehr lange kenne. Bei ihr war ich mir nicht sicher, ob wir uns nur freundschaftlich unterhalten oder ob da eine Anziehung im Raum steht. Wir hatten im Vorfeld die Details besprochen:

Umarmung ja – aber nur kurz und auf jeden Fall mit Maske.
Spazieren an der frischen Luft geht ohne Maske – aber wir sollten dann Abstand halten.

Während sie kluge Dinge sagte und mir erzählte, was sie bewegt, hielten wir uns penibel und höflich voneinander fern. Selbst in dem Moment, als sie mir begeistert das zarte grüne Moos am Boden zeigte und mir mit einem Lächeln in die Augen sah.

„Zu unserem Leidwesen blockiert die gegenwärtige Unverfügbarkeit körperlicher Nähe die aufbrechenden romantischen Frühlingsgefühle, unser Datingverhalten und folglich auch unsere Sexualität.“

Die Psyche in Zeiten der Corona-Krise, Kapitel 1.4, Hrsg. R. Bering, C. Eichenberg

Doch dann, kürzlich, begann ich eine Unterhaltung im Internet. Spontan, einfach weil ich Lust dazu hatte. Normalerweise bin ich überlegter, doch ich hatte Spaß an diesem sympathischen Fremden und an dieser lang vergessenen Sorglosigkeit. Ein einziges Mal dachte ich nicht nach, ein einziges Mal wog ich nicht ab. Wir verstanden uns gut und tauschten Telefonnummern aus. Ich grinste drei Tage am Stück und erzählte meinem Partner, dass ich jemanden kennengelernt habe. Kurz darauf war klar, dass wir uns sehen möchten.

Da wusste ich auf einmal gar nicht mehr, wie mir geschieht: es brachte mich völlig aus der Fassung. Die Sehnsucht nach all dem, auf was ich in letzter Zeit verzichtete, sprudelte plötzlich aus mir heraus. Ich bin immer emotional, aber das hier war von anderer Qualität. Ich kam mir so eingestaubt vor, als hätte ich ein Jahr lang in einem dunklen Keller gesessen und würde jetzt zum ersten Mal wieder an die Sonne gehen. Was früher eine Kleinigkeit war, ist jetzt ein Wagnis. Was früher selbstverständlich war, ist jetzt ein Fest für die Sinne.

Doch es ging auch darum, was im letzten Jahr verloren ging. Wie sehr ich es vermisse, unbeschwert zu sein.

Mein Gefühlssturm war überwältigend. Wie viel sich da angesammelt hatte, während einem Jahr Pandemie, wurde mir erst dadurch richtig klar. Dabei habe ich doch so ein Glück: Ich habe einen festen Partner, mit dem ich auch in der Pandemie täglich Sorgen, Freude und Intimität teile. Ich habe eine Freundin, die ich regelmäßig sehe, kann von zu Hause aus arbeiten und kommuniziere per Skype mit meinem engen Bekanntenkreis. Dass mir wirklich so viel fehlt!

Ganz geheuer war mir mein neuer Zustand nicht. Ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, ob ich überhaupt zurechnungsfähig bin.

Mit meinem neuen Flirt sprach ich offen und sehr explizit über Sex. Auf einem Foto war er beinahe nackt, aber das war nicht das, was meine Begierde weckte. Anziehender fand ich seine Lebendigkeit und seine Menschlichkeit. Aber am meisten erregte mich schlicht und einfach der Gedanke, ihm näher zu kommen und die unsichtbare Barriere zu durchbrechen, die mich derzeit von allen fremden Menschen trennt.

Meine Fantasien bezogen sich also darauf, die allseits bekannte 1,5m-Grenze zu unterschreiten:

Ihm in die Augen zu sehen, zu flüstern „Darf ich?“ und einen Schritt näher zu treten. Dieser eine Schritt auf ihn zu löst in mir heute das Kribbeln aus, das ich früher vor einem ersten Kuss fühlte, kurz bevor die Lippen sich zum ersten Mal berühren.

Jetzt schlägt mein Herz schon von der Vorstellung höher, allein die Präsenz dieses fremden Körpers zu erahnen, noch ohne ihn zu berühren. Ihm so nah zu kommen, dass ich seinen Geruch wahrnehme.

Mein Atem wird schwer bei der Vorstellung, mit meiner Fingerkuppe ganz langsam seinen Unterarm zu berühren. Es fühlt sich beinahe unerhört an. Intim.

Nichts ist erregender als der Gedanke daran, die Wärme seiner Haut zu spüren, und sei es nur seine Hand. Nichts kommt mir sinnlicher und gewagter vor, als die neuen Grenzen zu unterschreiten und eine physische Verbindung zu einem fremden Menschen herzustellen.

Das ist spannend und ein wenig schockierend, weil es mir klar macht, wie sehr die Veränderung der Welt auch mich selbst verändert. Andererseits hat es auch etwas sehr Positives: Es fühlt es sich jetzt noch intensiver an, einem fremden Menschen nah zu kommen. Und das genieße ich. So ist es beinahe noch schöner als früher.


Foto: Kevin Laminto (unsplash)